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Aufgestöbert: Lucile Hadzihalilovic

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

Im Internet kann man angeblich alles finden. Allerdings nur, wenn man vorher bereits weiß, wonach man suchen muss. Außerdem: Trotz zahlloser Streaming-Plattformen gibt es Filme, die auch im digitalen Raum verschütt gegangen sind. Sogar ganze Regisseur:innen, deren Werk untergeht, die aber mehr Aufmerksamkeit verdient haben. Solche stellen wir in dieser Reihe vor. Dieses Mal: das märchenhaft-verstörende Werk von Lucile Hadzihalilovic.

Meinungen
Evolution / Innocence / Earwig
Evolution / Innocence / Earwig

Auf den internationalen Festivals ist die Filmemacherin selbstverständlich präsent und ihr Werk auch geschätzt. Sicherlich sind ihre Filme nichts für die breite Masse. Hierzulande aber ist ihr eigensinniges Werk weitgehend unbekannt. Gerade weil die Frage nach einem weiblichen Blick in der Filmbranche so allumfassend diskutiert wird, sollte aber die Stimme oder vielmehr sollten die Bilder von Hadzihalilovic nicht fehlen: Einen derartig ausgeprägten Stilwillen findet man selten.

Will man Referenzen heranziehen, so kommt man nicht an der entrückten Stimmung einer Claire Denis (High Life), der stilisierten Künstlichkeit eines Peter Strickland (Berberian Sound Studio) und den Körperästhetiken eines Bertrand Mandico (The Wild Boys) vorbei. In gewisser Weise spielen auch die subversiven Erotikmärchen eines Walerian Borowczyk eine Rolle, weil sie in völlig eigenen, der Welt sich entledigenden Räumen spielen. Dabei deutet Hadzihalilovic eher an, als dass sie explizit wird. Ein Kino der Bilder und Räume, des streifenden Blickes, der völlig von einer bedrohlichen, untergründigen Atmosphäre eingenommen wird. Drei Langfilme hat sie bisher gedreht, und just im Juni angekündigt, dass ein vierter in Arbeit ist. La Tour de glace („Der Eisturm“) wird erneut eine Zusammenarbeit mit Schauspielerin Marion Cotillard, die schon in Innocence zu sehen war.

Dunkle Märchen

Bereits der vollkommen entschleunigte Beginn von Hadzihalilovics Langfilmdebüt lässt einem den Atem stocken: Die Kamera fährt aus dem Wasser heraus, über den Waldboden in ein Kellergewölbe hinein. Schließlich arbeiten sich die Bilder die Treppen hoch, bis die Kamera in einem hübschen Zimmer verharrt, in dessen Mitte ein Kindersarg steht. Bald schon versammeln sich identisch gekleidete Mädchen um den Sarg, aus dem ein Kind steigt; ein Neuankömmling, die es nun in die Gruppe zu integrieren gilt. Innocence (2004) handelt von einer dystopischen Erziehungsanstalt für Mädchen.

©Curzon

Der Film ist eine lose Adaption von Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen von Frank Wedekind. Ganz langsam, mit größter Sorgfalt, entfaltet Hadzihalilovic die Funktionsweise dieser Institution, bewahrt sich aber immer einen Rest an Geheimnis auf. Nichts wird uns erklärt, in Dialogen deutlich gemacht. Wir müssen uns schon selbst zurechtfinden, uns einen Reim aus den Regeln dieser Züchtigungsanstalt machen, in der Mädchen zu gefälligen Frauen ausgebildet werden: Sie müssen vor allem gehorchen und einander korrigieren. Kein Mann ist anwesend. Erst am Ende wird ein Junge ein Auge auf eines der Mädchen werfen, wenn die Anstalt/Schule mit einer U-Bahn verlassen wurde.

Der Titel ist dabei deutlich: Es geht um die Bewahrung einer Unschuld, die offenbar als besonders anziehend empfunden wird. Konkret wird der Film an keiner Stelle und eben deshalb verfolgt einen bis in den Schlaf. Bereits bei diesem frühen Film kommt das Kino von Hadzihalilovic zu sich selbst bzw. zu seinen Bildern, die für die Regisseurin das einzig legitime Mittel des Erzählens sind. Ein wahrlich gespenstisches Märchen ohne Happy End. 

 

Der Drill der Geschlechter

Evolution (2015) kann als Perspektivwechsel verstanden werden: Handelte Innocence von Mädchen in einer seltsamen Institution, lenkt Hadzihalilovic nun ihren Blick auf Jungs, die in einer Art Krankenhausumgebung auf einer Insel aufwachsen. Umgeben von ihren angeblichen Müttern, werden seltsame Untersuchungen an ihnen vollzogen: Offenbar gebären die Jungen eine neue Art Kinder. Einer der Jungen beginnt die vorgegebenen Abläufe infrage zu stellen; durch dessen Augen erleben wir eine abstrakte Welt aus allegorischer Eindrücklichkeit.

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Dabei ist Evolution deutlich am Horrorfilm orientiert, wenngleich die Märchenzüge auch hier die Erzählhaltung dominieren. Die Zeugungskraft der Männlichkeit wird zu einem bedrohlichen Bild, das erneut von einer Gewalt der Zurichtung erzählt. Pubertät wird in diesem Film zu einem von Normen und Funktionszwängen dominierten Alptraum, indem sich allerhand Ängste vermischen. Männlichkeit wird, als würde es sich um die Fortsetzung von Innocence unter anderen Vorzeichen handeln, zu einer Fabrikation, einer Art Entführung. Es ist durchaus faszinierend, wie Hadzihalilovic die Vorstellung von Natürlichkeit dekonstruiert und die Geschlechterrollen auf ihre eigene Weise hinter sich lässt.  

 

Ordnung und Zerfall

Bei ihrem jüngsten Film Earwig (2021) handelt es sich um eine Adaption des gleichnamigen Romans von Brian Catling. Gleich die erste Szene setzt den abseitigen Ton des Films: Ein hagerer, dem Lebenswillen offensichtlich beraubter Mann kauert in einer spärlich eingerichteten Küche auf seinem Stuhl. Für eine länger Zeit sitzt er dort in sich zusammengesunken. Als der Kühlschrank summt, beginnt der Mann seltsame Gerätschaften vorzubereiten. Ein Kind betritt den Raum, ohne ein Wort zu sprechen. Alle Tätigkeiten sind augenscheinlich Teil einer täglichen Routine. Im Gesicht trägt das Mädchen eine Vorrichtung, die einer Spange ähnelt und ihren Speichel in kleinen Glasbehältern auffängt. Aus dem Speichel werden Zahnprothesen aus Eis hergestellt, die jeden Tag erneuert werden müssen. 

Sich um Mia (Romane Hemelaers) und ihre Zähne zu kümmern, das ist die Aufgabe von Albert (Paul Hilton). In regelmäßigen Abständen muss er seinem Herrn über den Zustand des Mädchens berichten, das er in einem strengen Tagesablauf betreut. Als er schließlich gezwungen wird, Mia abzugeben, beginnt der wie ein Uhrwerk funktionierende Mann zunehmend psychisch zu zerfallen. Gewalt, Einsamkeit und rätselhafte Ereignisse beginnen in den Alltag einzufallen. 

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Anders als zuvor, steht nicht das Kind im Zentrum der Erzählung. Vielmehr handelt Earwig von den Zwängen eines traumatisierten Mannes, der nur durch eine absurde Tätigkeit am Leben gehalten wird: Zähne aus Eis einsetzen, die natürlich sofort zu schmelzen beginnen, ist nun wirklich nicht das, was man sinnstiftend nennen kann. Der Schmerz wird zu einem physikalischen Prozess des Verschwindens, zu einer Sysiphus-Arbeit. In seiner ganzen Ästhetik des Traumas (wenn man den Film überhaupt so lesen will) und seiner unklaren Zeitstruktur, muss man bei Earwig unweigerlich an Cronenbergs kafkaesken Spider oder den düsteren Possum von Matthew Holness denken, die allesamt von einer Gothic-Atmosphäre durchzogen sind. Immer geht es um Verfall und gleichzeitig um den Erhalt einer Ordnung, die sich vor allem in Zwängen ausdrückt. Hadzihalilovic erzeugt in ihrem düsteren Märchen eine hypnotische Architektur in ausgewaschenen Brauntönen der Verlassenheit, in der gegen den Verfall gekämpft wird, der unweigerlich einsetzt und bereits unentwegt am Wirken ist.

„Earwig“ ist bei MUBI abrufbar. Um „Innocence“ oder „Evolution“ zu sehen, muss man die französischen oder britischen Blu-rays/DVDs importieren lassen.

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