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Animationsfilme für Erwachsene – Von der Nische zum Massenmarkt

Ein Beitrag von Christian Neffe

Animation ist etwas für Kinder? Ein leider immer noch geläufiges, aber völlig falsches Vorurteil. Ein neuerlicher Beweis dafür: „Die Sirene“, der zwar animiert, aber alles andere als kindgerecht ist. Wir schauen auf weitere Beispiele in vier Kategorien.

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Akira/Die Sirene/Coraline
Akira/Die Sirene/Coraline

Es ist ein Vorurteil, mit dem wohl alle Film-Fans schon einmal in Kontakt gekommen sind, es womöglich sogar selbst pflegen: Animation, egal ob handgezeichnet oder computergeneriert, das sei ja was für Kinder. Was natürlich ausgemachter Mumpitz ist. Schließlich definiert die Form allein nicht die (primäre) Zielgruppe eines Filmes oder Kunstwerkes, sondern allem voran der Inhalt.

Das jüngste Beispiel läuft seit dem 30. November im Kino: Sepideh Farsis Die Sirene spielt im Jahr 1980 in der iranischen Stadt Abadan, die direkt an der Grenze zum Irak liegt. Und damit eines der ersten Ziele der angreifenden irakischen Armee im beginnenden Ersten Golfkrieg wird, unter dem insbesondere die Zivilbevölkerung leidet.

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Im Mittelpunkt: der junge Omid, dessen Bruder in den Gefechten fällt und der fortan versucht, ein Schiff klarzumachen, mit dem er andere und sich aus der belagerten Stadt schleusen kann. Obwohl animiert, ist Die Sirene alles andere als ein Film für Kinder, denn das Leid der Stadtbewohner:innen stellt er in zum Teil erschreckend expliziten Bildern dar. Auch das Thema respektive der historische Kontext machen Die Sirene zu einem Film vornehmlich für Erwachsene – dazu später mehr.

Die Anfänge: Animierte Kindergeschichten

Zunächst jedoch: ein Blick in die Vergangenheit und damit zu den Ursprüngen des anfangs genannten Vorurteils, dessen Genese dann doch nicht ganz unbegründet erscheint. Schließlich liegen die Anfänge des Animationsfilms in der Adaption von Märchen und anderen Kindergeschichten. Das begann schon in den 1910ern mit den Werken der deutschen Silhouetten-Künstlerin Lotte Reiniger, die unter anderem den Rattenfänger von Hameln, Aschenputtel und Tausendundeine Nacht in wunderschöne Scherenschnittfilme verwandelte. Und setzte sich wenige Jahre später in den USA mit der Erfolgsgeschichte Walt Disneys und Filmen wie Schneewittchen und die sieben Zwerge (1937) und Pinocchio (1940) fort.

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Insbesondere der Micky-Maus-Konzern mit seinem auf maximale Familienfreundlichkeit (sprich: die Kinder ziehen die Eltern ins Kino und in die Freizeitparks) gepolten Kurs prägte das vorherrschende Bild von Animation im Westen über Jahrzehnte maßgeblich, stand und steht nach wie vor für viele sogar synonym für (US-amerikanische) Animation. Dabei stammen Franchises wie Shrek, Drachzähmen leicht gemacht oder Ice Age gar nicht von Disney, sondern aus anderen Animationshäusern, in diesem Falle Dreamworks – ein durchaus verbreiteter Irrtum.

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Dass es bei Netflix seit geraumer Zeit jedoch eine Kategorie namens „Animation für Erwachsene“ gibt (zu finden mit dem Such-Code 1881), zeigt, dass sich der Wind gedreht hat und es für solche Werke offenbar eine zunehmende Nachfrage gibt. Wobei die treffendere Bezeichnung in diesem Falle „Animation nur für Erwachsene“ wäre. Denn nur weil ein Animationswerk für Kinder geeignet ist, heißt das nicht, dass es das nicht auch für Erwachsene wäre und es eine klare Trennlinie gäbe.

Sex und Gewalt

Natürlich aber gibt es solche Fälle – und ebenso im umgekehrten Fall. Zuvorderst dann, wenn es um jugendschutzrelevante Kriterien geht und hierbei insbesondere zwei Dinge: Sex und Gewalt. Da ist einerseits der Bereich des Pornografischen, in der Animation vor allem durch das Porno-Subgenre Hentai aus dem japanischen Raum abgedeckt. Diesen ausgeklammert, bleibt noch die Gewalt übrig. Und auch hier war Japan ein Vorreiter.

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Nicht, dass es Gewaltdarstellungen (und Nacktheit) in Animationswerken nicht auch im Westen gegeben hätte: Die kanadische Produktion Heavy Metal von 1981 war eine der ersten populären westlichen Animationsproduktionen explizit für eine erwachsene Zielgruppe, zelebrierte die Ästhetik von Metal-Plattencovern auf 90 Minuten Länge samt aller Brutalität und Freizügigkeit, die damals dazugehörte, war und ist bis heute aber eher ein nischiger Kultfilm beziehungsweise kultiger Nischenfilm.

Ein umso größerer Wow-Moment muss es 1989 für das Publikum der Berlinale gewesen sein, als dort der Anime Akira lief – oder wie es in einem Bericht des Studentischen Filmkreises der TU Darmstadt heißt: „Es hat uns den Atem geraubt.“ Die Manga-Adaption von Katsuhiro Otomo vereint Körperhorror, Science-Fiction-Dystopie, Splatter und Apokalypse zu einer ebenso blutigen wie inhaltlich komplexen Auseinandersetzung mit Themen wie Posthumanismus, Kapitalismus, Identität, Männlichkeit, Machtgier, Gewalt und Krieg.

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Die äußerst blutige, mit verstörenden, expliziten Gewaltspitzen versetzte Geschichte eines Jungen, der infolge eines Experiments zum Anti-Superhelden und später gigantischen Fleischberg wird, der Neo-Tokyo ausradiert, ist in dieser Bildgewalt kaum in Realbildern denkbar – nicht ohne Grund sind langjährige Pläne für eine Realverfilmung immer wieder versandet.

Während in Japan etliche weitere Anime-Filme und -Serien mit hohem, bisweilen sogar absurd gewaltigem Gewaltgrad folgten – beispielhaft seien hier nur Jin-Roh (1999), Berserk (ab 1997), Elfen Lied (ab 2004) und Hellsing (ab 2001) genannt, die ebenfalls Kultcharakter genießen –, tat sich der Westen weiterhin schwer mit Gewalt in Animationswerken, zumindest wenn ein größeres Publikum erreicht werden sollte. Oder setzte wie im Falle der Kurzfilmsammlung Animatrix (2003) ganz bewusst auf Anime-Künstler:innen und deren Ästhetik.

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Es scheint, als bedurfte es erst des Aufstiegs der Streaming-Dienste, um hier etwas Mut, Bewegung und Budget reinzubringen, sind diese doch nicht von einem großen Retail-Erfolg abhängig und können entsprechend mit Animationswerken für ihr junges erwachsenes Publikum experimentieren. In den Netflix-Produktionen Love, Death & Robots (seit 2019), America: Der Film (2021) oder Cyberpunk: Edgerunners (2022) beispielsweise geht es deutlich blutiger als in weiten Teilen der westlichen Animation üblich zu. Eines weiteres herausstechendes Werk der jüngeren Vergangenheit zudem: der Rotoskopie-Fantasy-Film The Spine of Night (2021), in dem Menschen im mittelalterlichen Schlachtengetümmel auf verschiedenste Weisen verstümmelt werden.

Grusel

Ebenfalls nicht kindgerecht: Horror. Tatsächlich aber fehlt es der Animation hier noch an den großen, bekannten Genre-Werken. Zwar gibt es etwa die animierten Resident-Evil-Filme wie Damnation (2012) und Infinite Darkness (2021), die allerdings eher wie die jüngeren Spiele und die Realfilme von Paul W.S. Anderson im Action-Genre zu verorten sind.

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Eine Stufe harmloser – im Bereich des Grusel und Schauers – finden sich hingegen dann doch ein paar Exemplare. So etwa der Stop-Motion-Episodenfilm The House (2022, erneut Netflix) oder das Frühwerk Tim Burtons. In The Nightmare before Christmas (Regie: Henry Selick. Produzent: Tim Burton, 1993) oder Corpse Bride (2005) zieht der Brite das Schauerhafte insbesondere aus dem verstörend-makaberen Gothic-Grusel-Design seiner Figuren und Welten, das erst durch das Mittel der Animation in der derart überbetonter und -stilisierter Form möglich ist. Von der FSK sind beide Filme zwar ab sechs Jahren freigegeben, was man aber durchaus kritisch hinterfragen darf. Noch mehr sogar beim wahrlich verstörenden Coraline (2009, ebenfalls ab sechs Jahren) der Stop-Motion-Expert:innen von Studio Laika.

Themen und Motive

Was bei Coraline erschwerend hinzukommt und auch etwa für Mary & Max (2009) gilt: Es geht um Dinge wie Drogensucht, tief verwurzelte Ängste und Depression. Themen, die man wahrlich nicht unter kindgerecht oder -geeignet einsortieren würde, was zum nächsten Aspekt führt, der Animationsfilme für Erwachsene von denen für Kinder abgrenzt: die Themen und Motive.

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Hierunter fallen insbesondere Werke, die ein gewisses Maß an kulturellem, historischem oder geopolitischem Vorwissen voraussetzen. Darunter auch Die Sirene, der sein Publikum ohne größere Erklärungen in sein Szenario – der Beginn des Ersten Golfkriegs – wirft. Zwar wird im Verlauf zum Teil erläutert, was die Hintergründe dieses Konflikts sind, ohne weiteres Vorwissen über die Geschichte und Kultur des Iran (etwa die Islamische Revolution 1979) fällt es jedoch schwer, das Dargestellte und die größeren Zusammenhänge einzuordnen.

Ähnlich verhält es sich bei den dokumentarischen Animationsfilmen Waltz with Bashir (2008), Josep (2020) und Flee (2021), die Animation nutzen, um verbale und schriftliche Schilderungen sowie Träume der Protagonisten zu visualisieren. Auch in Persepolis (2007), Die Odyssee (2021) und No Dogs or Italians Allowed (2022) wird Animation genutzt, um Erlebtes und Erzähltes in einem künstlerisch verfremdeten, aber stilistisch kohärenten Rahmen zu reenacten.

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Genannte Filme haben gemein, dass sie von Krieg, Flucht, Vertreibung und Unterdrückung erzählen – Themen, die zwar per se auch kindgerecht aufbereitet werden können, in den konkreten Fällen jedoch ein Verständnis für die Hintergründe etwa des Isreal-Palästina-Konflikts (Waltz with Bashir), des Spanischen Bürgerkriegs (Josep) oder des Italienischen Faschismus (No Dogs or Italians Allowed) voraussetzen.

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Und dann sind da noch die Animationsfilme, die allein mit ihrer schieren inhaltliche Komplexität eine junge Zielgruppe überfordern dürften. Die Anime-Filme von Satoshi Kon etwa, die in verschachtelten Traum- und Traumawelten spielen (Paprika, 2006), Realität und Wahnsinn verschwimmen lassen (Perfect Blue, 1997) oder mit auf einen Streifzug durch die Geschichte Japans nehmen (Millennium Actress, 2001). Oder Ari Folmans The Congress (2013), eine vielschichtige Auseinandersetzung damit, wie digitale Abbilder womöglich bald echte Schauspieler:innen ersetzen könnten. Richard Linklaters traumwandelnde Philosophie-Collage Waking Life (2001) überwältigt sogar mühelos die meisten Erwachsenen. Ähnliches gilt für den existenzialistischen Cyberpunk-Krimi-Anime Ghost in the Shell (1995).

Stil

Neben all diesen inhaltlichen Aspekten kann bisweilen aber doch auch die Form einen Animationsfilm für ein vorrangig erwachsenes Publikum ausweisen. Da sind einerseits Experimentalwerke wie Suzan Pitts Asparagus (1977), im Bereich des klassischen Publikumsfilms seien hier aber insbesondere Loving Vincent (2017) und Ruben Brandt, Collector (2018) genannt, die einen Großteil ihres Reizes aus ihrem referenziellen Stil beziehen.

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Da wird einmal Vincent van Goghs Malerei in einen Spielfilm überführt, oder es werden gleich etliche Filmgenres und vor allem weltbekannte Werke der bildenden Kunst inhaltlich wie visuell zitiert. Auch Dash Shaws Cryptozoo (2021) eignet sich mit seiner einerseits wunderschönen, andererseits aber auch verstörend grotesken Scherenschnittoptik wahrlich nicht für Kinder.

Animationsfilme für alle

Ebenso wie es Animationsfilme gibt, die sich explizit an ein sehr junges Publikum richten, gibt es also auch eine Vielzahl, die eher oder ausschließlich für ein erwachsenes geeignet sind. Aber eben auch solche, die mühelos beide (Ziel-)Gruppen ansprechen: Animation auch für Erwachsene, aber nicht ausschließlich für sie.

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Gerade Pixar – unter anderem Toy Story (1995), Ratatouille (2007) oder Alles steht Kopf (2015) – versteht es seit jeher, seine Geschichten inhaltlich wie formal so zu erzählen, dass sie sowohl Klein als auch Groß ansprechen, ihnen etwas mitgeben, und das zumeist je nach Altersgruppe auf ganz unterschiedliche Weise. Selbiges gilt für die Werke von Studio Ghibli, bekannt unter anderem für Chihiros Reise ins Zauberland (2001), oder das irische Studio Cartoon Saloon (Das Geheimnis von Kells, 2009; Wolfwalkers, 2020).

All diese Filme zeigen: Das Vorurteil, das Animation nur etwas für Kinder sei, geht weit an der Realität vorbei. Im Gegenteil: Der Animationsfilm hat für jeden etwas zu bieten, egal ob jung, alt oder beide. Die parallel startenden Filme Die Sirene und Wish zeigen die Bandbreite dieses Spektrums umso deutlicher.

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