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Aus einem schmalen Tal kam eine der bedeutendsten Künstlerfamilien des 20. Jahrhunderts: die Giacomettis. Dokumentarfilmerin Susanna Fanzun porträtiert die Eltern und die vier Kinder mit spürbarer Zuneigung und einem sensiblen Gespür für ein herzerwärmendes Zuhause.

Die Giacomettis (2023)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Aus dem Schatten ans Licht

Die Sonne scheint lange nicht ins Bergell, ein enges Alpental in der Südschweiz. Für drei ganze Wintermonate liegen die Dörfer am Fuß der majestätischen Bergriesen im Schatten. Eigentlich keine gute Voraussetzung für die Malerei – die Kunst des Lichts. Doch ausgerechnet hier lebte eine der bedeutendsten Künstlerfamilien des Landes: Giovanni Giacometti mit seiner Frau Annetta und den vier hochtalentierten Kindern Alberto, Diego, Ottilia und Bruno. Alberto, der älteste, sollte einer der wichtigsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts werden. Seine extrem dünnen und langen Figuren werden wohl viele schon einmal gesehen haben. Wie Albertos Werk mit diesem Tal, mit dem Wirken seines Vaters und dem Zusammenleben mit seinen Geschwistern zusammenhängt – das verdichtet die Schweizer Dokumentarfilmerin Susanna Fanzun zu einer beeindruckenden, zärtlichen und teils berührenden Familiensaga. 

Ein munteres Bächlein, umsäumt von noch braunen Wiesen — und dann dasselbe Gewässer, aber nun als Gemälde im impressionistischen Stil, hingetupft um des subjektiven Eindrucks willen. Die Farben leuchten, sie lodern beinahe vor Lebensfreude. Mit solchen Parallelen zwischen Realität und Fantasie arbeitet die Dokumentation fast durchgängig. Aus alltäglichem Leben wird Kunst, auch in den nachgestellten Szenen, die sich nahtlos in die komplexe, aber sehr natürlich wirkende Montage fügen: Gemälde, Fotos, Interviews, Briefe und Archivfilme. Gleitende Übergänge formen eine Harmonie, die den Zusammenhalt einer außergewöhnlichen Familie spiegelt, auch wenn das Schicksal jedes einzelnen nicht immer leicht war. Sowohl der Vater wie der älteste Sohn mussten sich durch ein kärgliches Dasein schlagen, bis sie endlich von ihrer Kunst leben konnten.

Zehn Jahre lang hat sich Filmemacherin Susanna Fanzun intensiv mit den Giacomettis beschäftigt, mit denen sie eine räumliche und geistige Nähe teilt. Im benachbarten Engadin aufgewachsen, betrachtete sie schon als Kind die Illustrationen Giovannis in einem Märchenbuch der Region. 2002 dann drehte sie eine Kurzdoku über Alberto, aus der Interviews in den aktuellen Film eingeflossen sind. Denn sie konnte damals mit inzwischen verstorbenen Menschen sprechen, die die Giacomettis persönlich noch gekannt haben, unter anderem deren Haushälterin und eine Nachbarin. Susanna Fanzun fungiert als Ich-Erzählerin in ihrem Film. Ihr Interesse an den Porträtierten ist subjektiv gefärbt, ohne die Kärrnerarbeit in den Archiven und das Sichern der Fakten zu vernachlässigen. Daraus erwachsen die Faszination und die Zuneigung, die den Film durchdringen. 

Wie der Maler Giovanni und der Bildhauer Alberto will die Filmemacherin nicht bei den äußeren Fakten stehenbleiben. Sie will ins Innere schauen und das Netz der zwischenmenschlichen Beziehungen durchdringen. Dabei stößt sie auf eine außergewöhnliche Liebe der Geschwister zu den Eltern sowie untereinander. Das Bergell und vor allem die Mutter blieben dabei stets ein Kraftquell für das künstlerische Schaffen, auch wenn Alberto schon als junger Mann nach Paris ging und Diego ihm dahin folgte, wo sie zeitlebens zusammen wohnten und ein gemeinsames Atelier hatten. Als Alberto 1949 seine Freundin Annette heiraten wollte, holte er zuerst die Zustimmung seiner Mutter ein – sehr ungewöhnlich für einen freizügig lebenden Mann, der zu den Freunden von Jean-Paul Sarte und Simone de Beauvoir zählte.

Man könnte wohl über jede der wechselseitigen Familienbeziehungen einen eigenen Film drehen. Deshalb ist es so bemerkenswert, wie elegant Susanna Fanzun eine Schneise durch den riesigen Materialberg schlägt. Dazu bedient sie sich einer konventionellen Chronologie, die in diesem Fall nicht langweilig, sondern wohltuend aufgeräumt wirkt. Zuerst schildert die Filmemacherin den Werdegang von Vater Giovanni (1868 bis 1933), dem spätimpressionistischen Maler und Grafiker. In jungen Jahren war ihm das Tal zu eng, er studierte in München und Paris, um dann durch Italien zu ziehen, ohne sich mit seiner Kunst über Wasser halten zu können. Ganz bewusst zog er schließlich nach Stampa ins Bergell zurück, der Einsicht folgend, dass man überall interessante Sujets finden kann, nicht nur unter der Sonne Italiens oder Südfrankreichs. Sohn Alberto (1901 bis 1966), der noch berühmtere Bildhauer und Maler, studierte zuerst in Genf, begleitete dann seinen Vater zur Biennale in Venedig, bereiste ebenfalls Italien und landete in Paris. Dort schloss er sich zuerst den Surrealisten an, kehrte dann aber zum Figürlichen zurück und entwickelte schließlich seine unverkennbare Handschrift der langgezogenen Skulpturen. Die drei anderen Geschwister werden keineswegs vergessen, aber quasi angehängt am Hauptstrang Giovanni/Alberto, wie kleine Nebenperlen. 

Mit ihren imposanten Landschaftaufnahmen wirkt auch die Filmsprache wie gemalt, was einen geschmeidigen Bilderfluss ergibt, dezent begleitet von zart-verspielten Klavierklängen der Pianistin Hania Rani. Auf der inhaltlichen Ebene schließt der Film auch dissonante Töne ein, etwa das schwierige Verhältnis Albertos zu Frauen und sogar eine irritierende Vergewaltigungsphantasie des berühmten Künstlers, die er während seiner Zeit bei den Surrealisten öffentlich bekannte. Aber auch innere Zerrissenheit oder Neid bleiben eingebettet in ein insgesamt warmes Zugehörigkeitsgefühl. Mit Bedacht deutet die Regisseurin mögliche Interpretationen einer Art Familienaufstellung lediglich an und überlässt die Antworten auf offene Fragen dem Publikum. Das ist nicht der schlechteste Anreiz, sich noch weiter mit den Giacomettis zu beschäftigen, auch nach dem Kinobesuch.

Die Giacomettis (2023)

Das schroffe Bergell hat eine Künstlerdynastie hervorgebracht: Alberto Giacometti verändert mit schmalen Skulpturen die Welt der Kunst, und schon sein Vater war Impressionist erster Stunde. Regisseurin Susanna Fanzun fragt sich, was zwischen den Werken geschah, welche Stimmung in dieser Familie herrschte.

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Meinungen

Christoph · 25.02.2024

Ein insgesamt enttäuschender Film. Das Bergell bekommt man nur ausschnittsweise zu sehen, man erhält keine Idee von dem Tal. Alberto soll einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts sein, aber es wird nicht erläutert/ herangeführt, warum das so ist/ was das Besondere an seiner Kunst war. Dafür erhält sein katastrophales Verhältnis zu Frauen zuviel Platz, ohne einen Versuch zu wagen, das zu interpretieren im Angesicht seiner starken Mutter-Fixierung. Nur vom Vater habe ich jetzt ein gutes Bild.

Anita Brandner · 19.10.2023

Bin sehr am Thema interessiert