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Markus Stein errichtet dem Fotokünstler Jürgen Baldiga ein weiteres Denkmal. Sein Dokumentarfilm wirft einen vielschichtigen Blick auf ein Stück queerer Kulturgeschichte und das Trauma der AIDS-Krise.

Baldiga – Entsichertes Herz (2024)

Eine Filmkritik von Janick Nolting

Gegen das Verstecken

Über 30 Jahre nach dem Tod von Jürgen Baldiga haben seine Fotografien nichts an Anziehungs- und Schlagkraft verloren. Seine Aufnahmen konservieren Persönlichkeiten, intime und exzentrische Augenblicke. Sie sind politisch, allein im Fixieren der Präsenz ihrer (queeren) Protagonisten. Sie erschüttern mit teils radikaler Körperlichkeit gängige Subjektvorstellungen und Rollenbilder – und sie sind viel zu zahlreich und divers, um ihnen mit nur einem anderthalbstündigen Dokumentarfilm gerecht zu werden. Markus Stein ist nach Jasco Viefhues (Rettet das Feuer) der nächste Regisseur, der sich an einer Annäherung an den Aktivisten und Fotokünstler versucht.

Baldiga – Entsichertes Herz variiert dabei klug die eigenen Erzählmechanismen und bietet einen angemessen komplexen Beitrag zur Aufarbeitung queerer deutscher Geschichte(n). Der Film öffnet einen ganzen Fundus an Material, an dem er sich eng entlangarbeitet. Er präsentiert sich zuvorderst als eindrucksvolles Kuratieren und Zugänglichmachen von Quellen. Die genaue Recherchearbeit spürt man in jeder Minute. Permanent erscheinen Fotos aus dem überbordenden Schaffen Baldigas. Tagebücher liefern Texte, die eingeblendet und als Voice-Over gesprochen werden. Das Buch von Ringo Rösener verdichtet sie zu einer Collage an Stimmen, die die Gedankenwelt Baldigas zum Leben erwecken, während Spielfilmsequenzen sowie Interviews mit Nahestehenden und Zeitzeugen zusätzlich den Kontext erweitern.

Jürgen Baldiga kommt Ende der 1970er-Jahre aus Essen nach West-Berlin, verdient sein Geld als Koch und Sexarbeiter und beginnt bald, Umfeld und Alltag fotografisch zu dokumentieren. Später wird er zu einem bedeutenden Chronisten der AIDS-Krise und seiner eigenen Krankheitsgeschichte, bevor er mit 34 Jahren selbst an dem Immunschwäche-Syndrom stirbt. Markus Steins Werk durchstreift diesen Lebensweg auf zweierlei Ebenen, die das große Potential eines biographischen Kinos zum Vorschein bringen, an dem so viele Filmschaffende scheitern – nämlich das bewusste Raffen und Verdichten des Spezifischen, um auf größere Verflechtungen und gesellschaftliche Umstände zu blicken. Baldiga erzählt in sieben Kapiteln von den alltäglichen Kämpfen, aber auch den ausgelassenen Seiten einer Subkultur rings um das Berliner SchwuZ, die sich immer wieder aufs Neue mit Diskriminierung, Marginalisierung und Fremdzuschreibungen auseinandersetzen muss. Jürgen Baldigas Kunst fungiert dabei als Medium, diese Kämpfe in Ausschnitte zu fassen, sie studierbar und sichtbar werden zu lassen.

Baldiga hat mitunter Mühe, all die Stimmen und Persönlichkeiten gebührend einzuführen, Ordnung in die Positionen, Hintergründe und Erinnerungen zu bringen. Groß ist die Herausforderung, das verbal Geäußerte mit der visuellen Ebene zusammenzudenken. Man hadert spürbar, zwischen reiner Illustration und produktiver Spannung in den Bildern zu wechseln. Weniger anregend wird der Film dadurch mitnichten! Gerade in der zweiten Hälfte, wenn es um Baldigas HIV-Erfahrungen und das massenweise Sterben geht, erlangt er große Brisanz. Er beleuchtet das Trauma der AIDS-Krise als eine Geschichte von gezeichneten, einsamen, stigmatisierten und entfremdeten Körpern, aber auch als Frage der Verantwortung, des Selbstverständnisses und der Einstellung zu Sexualität und Lustfeindlichkeit. Baldiga lässt dabei ebenso medizinisches Personal zu Wort kommen, das sich an den Umgang mit den Erkrankten erinnert. Fürsorge, Solidarität, aber auch Abweisung, Isolation und Gewalt gehen in diesen Geschichten Hand in Hand. Der Film hilft dabei, das zum Teil verdrängte und verlorengegangene Wissen einer ganzen Generation  wieder an die Oberfläche zu befördern.

Wo dokumentarische Porträts und Biopics sonst an ihre Grenzen filmischer Illusion stoßen, wie sie in ihrer Quellenarbeit immer auch mit subjektiven Perspektiven, Standpunkten und Deutungen verfahren müssen – das macht Baldiga durchweg transparent. Sei es im Fragmentieren von Körpern, Beschneiden von Blickwinkeln, wenn er Szenen nachstellt und fiktionalisiert, oder auch in der bewussten Diskretion und Verweigerung naheliegender Motive. Besonders, wenn es um das Beschreiben von Krankheit und Tod geht, bei dem etwa der Blick in einen gespenstischen Krankenhausflur reicht, um dem Geschilderten Nachhall zu verleihen – auch ohne sich dem Reißerischen zuzuwenden. Ohnehin ist Verweigerung das zentrale Stichwort: die Geschichte eines Tabubrechers, der sich weigerte, sich und all die Facetten seiner Identität zu verstecken. Und ein Film, der sich weigert, seine Leidensgeschichte in bloßer Trübseligkeit auszuschlachten. Dass er sich von der biographischen Skizze zum Porträt einer Subkultur über eine Todeserzählung hin zu einer finalen widerständigen Romanze bewegt, birgt etwas Tröstliches.

Baldiga – Entsichertes Herz (2024)

Mit Tagebuchauszügen, Fotografien und Erinnerungen von Wegbegleiter*innen zeichnet der Film das Porträt des Künstlers Jürgen Baldiga, der mit seiner Kamera die queere Szene Westberlins der 1980er- und frühen 1990er-Jahre einfühlsam und authentisch einfing. (Quelle: Berlinale)

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