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Abseits von Disney und Hamilton: Die besten Arthouse-Musicals

„Do you hear the people sing?“ In Cineastenkreisen haben Musicals einen schlechten Ruf – zu Unrecht. Denn es muss nicht immer Broadway-Schmalz sein. Auch das Arthouse-Kino kennt gelungene Gesangseinlagen.

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Dancer in the Dark / Golden Eighties / Die Liebesparade
Dancer in the Dark / Golden Eighties / Die Liebesparade

Das Musical feiert aktuell eine Rückkehr ins Mainstream-Kino. Diese Woche erscheint Die Farbe Lila, folgt damit dicht auf Mean Girls: The Musical und selbst im kommenden Joker-Sequel soll gesungen werden. Der künstlerische Mehrwert vieler Broadway-Verfilmungen ist streitbar. Allerdings finden sich Musicalfilme auch im Oeuvre von Chantal Akerman oder Lars von Trier.

Die Liebesparade von Ernst Lubitsch

Gilt als das erste Filmmusical Hollywoods, in dem die Songs in die Narration eingebunden sind, und soll auf dieser Liste nicht fehlen. Denn heutzutage würde man eine Lubitsch-Retro selbstverständlich nicht im Cineplex finden, sondern in einem Programmkino. Die Liebesparade ist zugleich Lubitsch‘ erster Tonfilm, und frühe Tonfilme zu sehen, ist oft eine Freude, denn dieses im heutigen Kino so selbstverständliche Element wird hier noch bewusst und spielerisch eingesetzt. Gleich in der ersten Szene des Films gibt es verschiedene Sprachen, Ton, der von nah und von fern kommt, oder dumpf hinter eine Tür hervor. Un- und Missverständnisse tauchen immer wieder im Film auf, oder Figuren, die einander belauschen. Die verschiedenen Tonelemente können zudem komödiantisch aufeinander reagieren. „Ich will nichts mehr von Hochzeiten hören“, sagt Luise (Jeanette MacDonald), Königin des fiktiven Königreichs Sylvania. Ihre Kapelle draußen im Hof stimmt daraufhin einen Hochzeitsmarsch an.

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Luise ändert ihre Meinung, nachdem sie den Schürzenjäger Graf Alfred (Maurice Chevalier) kennenlernt. Er hat Paris wegen seiner zahlreichen Affären verlassen müssen. Ein Highlight ist der Abschiedssong an die Damen der Stadt, in dem nicht nur Alfreds Butler (Slapstick-Profi Lupino Lane), sondern auch der Hund eine eigene Strophe bekommt, woraufhin die Hunde der Stadt aus dem Gebüsch eilen und zu seinem Fenster hinaufjaulen. In der ersten Hälfte merkt man Die Liebesparade deutlich an, dass er vor dem Hays-Code entstanden ist, soll heißen: Der Film ist wunderbar zotig.

Der anschließende Geschlechterkampf ist leider weniger interessant, das Ende gar eine ärgerliche Reaffirmation patriarchaler Machtverhältnisse. Interessant ist aber, vorgeführt zu bekommen, dass das Musical freilich viel älter ist als der Musicalfilm und seine Tropen schon lange überdauern. Die Songs treten hier in den selben dramaturgischen Funktionen auf, die bis heute typisch sind: Figuren stellen sich vor, Figuren formulieren ihre Ziele, ein Ensemble von Nebenfiguren kommentiert das Geschehen.

Vielleicht hat das Team der Berlinale-Classics-Sektion den Trend zurück zum Musical ebenfalls erkannt: Eine Restauration von Die Liebesparade wird beim Festival zu sehen sein. Zum Streamen steht der Film derzeit leider nicht zur Verfügung.

Mathis Raabe

Dancer in the Dark von Lars von Trier

Bei Musicals denkt man zunächst an buntes Treiben, etwas Dramatik, aber mit ganz viel Gefühl und Tanz und Tamtam. Alles in allem regiert die gute Laune. Damit hat Lars von Trier allerdings wenig zu schaffen. Der dänische Berserker will uns zermürben, dem unvermeidbaren Schicksal auf den Grund gehen. Dancer in the Dark ist ein intensives, dunkles Drama über das Schicksal einer Frau. 

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Popstar Björk (die mit Lars nicht so gut ausgekommen ist) spielt Selma, die aufgrund einer Augenkrankheit im Begriff ist zu erblinden. Um ihrem Sohn dasselbe Schicksal zu ersparen – die Krankheit wurde vererbt –  versucht die Frau, alles Geld zu sparen, arbeitet Tag und Nacht in der Fabrik und opfert sich regelrecht auf. Sie gibt sich die Schuld. Während die Welt um sie herum zunehmend verschwindet, erblüht im Inneren der Frau eine Vorstellungswelt aus Liedern und Tanz – ein existenzielles Musical.

Wie so häufig in den Filmen von Lars von Trier leiden die Menschen an ihrem Körper: Dort sitzt die Depression, die unheilvolle Lust oder eben das Erbgut, die Schuld am möglichen Erblinden des Sohnes. Der Geist und die Vorstellungskraft aber, sie geben Selma einen Ort der Freiheit und einen Ausdruck für den Lebensdurst. All das ist grandios inszeniert: nicht als farbenfrohes, perfektes Spektakel, sondern vielmehr als Theater der Arbeiter*Innen – uneitel, amateurhaft und roh. Aus den Geräuschen der Fabrik oder eines Zuges ergeben sich schmerzhafte Stücke, die um ihr Leben fürchten müssen.

Sebastian Seidler

Golden Eighties von Chantal Akerman

Wenn sogar die Regisseurin des laut BFI besten Films aller Zeiten eins gemacht hat, ist das ja wohl der Beweis, dass das Musical die Königskunstform ist. Warum gelten Musicals vielen als uncool? In der Regel ist es unnatürlich, im Alltag laut zu singen. Man würde als sozial auffällig wahrgenommen. Ebenso ist die Musicalnummer einer Filmfigur ein Bruch mit einer realistischen Inszenierung, und noch dazu oft ein großer Gefühlsausbruch. Überzogen, pathetisch, sagen viele. Chantal Akerman spielt mit dieser Wahrnehmung schon in der ersten Szene von Golden Eighties: Ein Brief wird vorgelesen, aber schon nach zwei Zeilen guckt die Figur dabei nicht mehr auf den Zettel, sondern in die Kamera, dann geht der Brieftext in ein Lied über.

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Chantal Akermans Songs sind weniger ausladend als das, was man so am Broadway hört. Dafür gibt es ein Männerquartett, das im Hintergrund herumhängt und dann immer wieder durch kurze, kaum zwei Zeilen lange A-capella-Einlagen das Geschehen kommentiert. Auch die Ausführung der Tanzschritte ist auf charmante Weise unperfekt. Knallbunt ist dieses Musical aber schon: Die titelgebenden Achtziger stechen aus jeder Einstellung hervor, denn ein Modegeschäft und ein Friseursalon sind die Locations. Akerman betrachtet wie so oft Alltagsszenen und findet darin einen Mikrokosmos, in diesem Fall: das Treiben in einem Einkaufszentrum.

Golden Eighties erzählt von den Liebesproblemen eines Ensembles von Menschen, die dort arbeiten: Friseurin Lili muss sich zwischen ihrem Ehemann und ihrem Lover entscheiden, Kellnerin Sylvie vermisst ihren verreisten Boyfriend, Anzugverkäuferin Jeanne trifft zufällig auf ihre Jugendliebe und alte Gefühle flammen auf. Währenddessen verfolgen die Herren, denen die Ladenflächen gehören, geschäftliche Pläne. Im Laufe des Films kreuzen sich nicht nur die Wege der Figuren auf Partnersuche, sondern auch die von Liebe und Kapitalismus. Das Einkaufszentrum, der Menschenauflauf dort, stehen oft im wörtlichen Sinne zwischen den Liebenden. Das mit der Liebe sei ganz ähnlich wie das Kleider kaufen, wird formuliert: Solange noch alle in die Schaufenster gucken und immer wieder neu verführt werden, läuft das Geschäft.

Mathis Raabe

Tommy von Ken Russell

Entschuldigung, natürlich handelt es sich genauer gesagt um eine „Rockoper“ – die Verfilmung eines musikalischen Konzeptalbums. Ken Russell war gewohnt psychedelisch aufgelegt und machte aus The Whos Tommy einen Film, der die wilde Erzählung der Vorlage beim Wort nimmt, und in dem kein einziges Wort gesprochen wird. Warum auch, wenn man singen kann?

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Die Titelfigur ist „taub, dumm und blind“, nachdem er als Kind einen Mord beobachtet und sich von der Realität verabschiedet hat. Stattdessen entwickelt Tommy eine innere Welt, experimentiert mit Drogen und wird schließlich als Erwachsener erst erfolgreicher Pinball-Spieler, dann der Heiland einer neuen Religion.

The-Who-Sänger Roger Daltrey selbst spielt die Hauptfigur, in Nebenrollen ist ein beeindruckendes Who is who der Pop-Musik der Achtzigerjahre zu sehen: Elton John als „Pinball Wizard“, Tina Turner als „Acid Queen“, Eric Clapton als Prediger einer Sekte, die Marilyn Monroe verehrt. Unter dem großen visuellen Bombast verstecken sich Überlegungen zu Themen wie Selbst- und Fremdwahrnehmung und der Vergötterung von Personen des öffentlichen Lebens, die noch immer höchst aktuell wirken.

Mathis Raabe

Die Regenschirme von Cherbourg von Jacques Demy

Wer über die Geschichte des Filmmusicals abseits des Mainstreams forscht, kommt natürlich an Jacques Demy nicht vorbei. Dessen Werk aus dem Jahre 1964 gilt heute als einer der bedeutendsten Beiträge nicht-amerikanischer Herkunft und begründete die Karriere von Catherine Deneuve, die hierin ihren ersten Auftritt auf der großen Leinwand hatte.

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Der Film erzählt die Geschichte der Regenschirm-Verkäuferin Geneviève (Deneuve) und des Automechanikers Guy (Nino Castelnuovo), die einander inniglich lieben. Doch dann wird Guy als Soldat in den Algerienkrieg einberufen. Geneviève bleibt schwanger und enttäuscht zurück, da ihr Geliebter kaum je schreibt und erliegt schließlich den Avancen des Geschäftsmannes Roland (Marc Michel), den sie heiratet. Als Guy aus dem Krieg mit einer Beinverletzung heimkehrt, ist Geneviève weggezogen und der Regenschirmladen existiert nicht mehr, was den jungen Mann an den Rand der Verzweiflung treibt. Doch schließlich findet auch er sein Glück – bis eines Tages unvermutet Geneviève vor ihm steht.

Die Musik zu diesem hinreißenden und sehr bunten Filmmusical stammt aus der Feder von Michel Legrand, der zuvor bereits einige Erfolge als Jazzmusiker hatte feiern können, zu diesem Zeitpunkt aber noch am Anfang seiner Arbeit für das Kino stand. Gleichwohl hatte er bereits mit Agnès Varda, Jean-Luc Godard, Henri Verneuil und Jospeh Losey zusammengearbeitet.

Die Regenschirme von Cherbourg bildet den Mittelteil von Demys sogenannter „romantischer Trilogie“, die 1961 mit Lola, das Mädchen aus dem Hafen begann. Auch dieser Auftakt war ursprünglich bereits als opulentes Farbfilm-Musical konzipiert, doch das knappe Budget verhinderte, dass der Film tatsächlich wie geplant gedreht werden konnte. Wobei die Musik (ebenfalls von Michel Legrand) hier zweifelsohne eine wichtige Rolle einnimmt und es zumindest eine kleinere Gesangseinlage gibt. Die Mädchen von Rochefort, 1967 gedreht und ebenfalls mit Catherine Deneuve in einer der Hauptrollen, setzte den Weg von Die Regenschirme von Cherbourg nahtlos fort und ist ebenso hinreißend wie sein Vorgänger und für den Regisseur die Erfüllung seiner Träume, wie er in einem Gespräch bekennt:

„Im Musical habe ich die größte Befriedigung für all meine Aspirationen gefunden. Sie sind an dem Tag erfüllt worden, als ich Les Demoiselles de Rochefort gedreht habe. Da war ich vollständig glücklich. Ich habe alles mit reingebracht, was ich liebe: Es ist die Rede von Malerei, es gibt Poesie, Chansons, Tanz, Literatur und Kino.“

Besser kann man die Liebe zum Filmmusical eigentlich kaum auf den Punkt bringen.

Joachim Kurz

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