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Fundstücke

Dokumentarist wider Willen: Rudolf Breslauer und sein Westerbork-Film

Ein Beitrag von Christian Neffe

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Bild aus dem "Westerbork-Film" von Rudolf Breslauer.
Bild aus dem "Westerbork-Film" von Rudolf Breslauer.

Ein ankommender Zug mit Inhaftierten, die bereits Anwesenden helfen ihnen heraus, dann die Registrierung und weiter zu den Werkstätten: An Werkbänken wird gehämmert, an Maschinen geschraubt, es wird gelötet und genäht, im Wald Holz gehackt, am Ende gibt es gar eine lustige Theatervorführung. Zwischendurch idyllische Aufnahmen von Kühen und Pferden. Heute sind es mahnende Bilder gegen das Vergessen — zu ihrer Entstehungszeit war die Intention aber eine gänzlich andere. „Westerbork Film“ ist der Titel, den dieser Film trägt, entstanden 1944 im in den Niederlanden gelegenen Durchgangslager Westerbork. Ein von den Deutschen errichtetes Lager, von dem aus Juden und Jüdinnen in andere Konzentrationslager geschickt wurden.

Gedreht wurde das Material vom 1903 in Leipzig geborenen Fotograf Rudolf Werner Breslauer — selbst Jude und Inhaftierter. 1938 floh er mit seiner Familie in die Niederlande, wurde vier Jahre später von den Deutschen verhaftet und nach Westerbork geschickt. Der damalige Lagerkommandant Albert Gemmeker hatte eine Idee: Es sollte ein Film über das Lager entstehen, der zeigen sollte, wie gesittet es dort angeblich zugehen würde. Ganz ähnlich wie es Kurt Gerron, bekannt aus Der blaue Engel, 1944 in Theresienstadt aufgetragen wurde. Aus Gerrons Bildern entstand der Film Der Führer schenkt den Juden eine Stadt. In Westerbork sollte Breslauer diese Aufgabe übernehmen.

Rudolf Breslauer (c) Public Domain

Im Gegensatz zu Gerrons Werk ist Breslauers Film kaum einer breiteren Öffentlichkeit bekannt — auch weil er nie offiziell fertiggestellt wurde. Die Dreharbeiten wurden nach einigen Monaten eingestellt. Das Rohmaterial verarbeitete Breslauers Kollege Wim Loeb zu einer „offiziellen Version“ und einer „Restversion“. Letztere wurde schließlich aus dem Lager herausgeschmuggelt, war danach vor allem Forschungsgegenstand, wurde erst kürzlich restauriert und zu einem finalen Film zusammengestellt, nachdem die UNESCO das Zeitdokument 2017 in die Liste der Welterinnerungen aufnahm, die nie vergessen werden dürfen — zeigt es doch, wie perfide die Propaganda- und Lügenmaschine sowie das Genozid-Selbstverständnis der Nazis war: der Alltag im Durchgangslager als etwas durch und durch Normales, ja fast schon als Geste der Gutmütigkeit gegenüber jenen Menschen, die, sobald ihr Dienst verrichtet ist, wie Ausschussware ins Gas geschickt werden.

Von Westerbork aus wurden 107.000 Menschen weiter nach Auschwitz und in die anderen Vernichtungslager geschickt, unter ihnen auch Anne Frank. Auch Breslauer, der für Kommandant Gemmeker anscheinend seinen Zweck erfüllt hatte, wurde 1944 in den Zug nach Theresienstadt gesteckt und kam später nach Auschwitz, wo er 1945 ermordet wurde. So wie auch seine Frau und seine beiden Söhne. Lediglich seine Tochter Ursula überlebte. Und Gemmeker? Der wurde 1945 von den Alliierten festgenommen, 1949 zu zehn Jahren Haft verurteilt (angeblich habe er nicht gewusst, wie die Gefangenen in den anderen Lagern erwarte), zwei Jahre später entlassen — und führte anschließend einen kleinen Tabakladen in Düsseldorf, wo er 1982 starb.

Der Westerbork-Film ist derweil in mehreren Fassungen im Netz zu finden — seit gut einem Jahr auch in Farbe sowie mit Musikuntermalung bei YouTube:

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Weitere Infos zum Film unter www.kampwesterbork.nl.

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