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Frauen wählen: Dekonstruktion des Rachetrillers

Ein Beitrag von Sonja Hartl

Man nehme einen Mann, der Kinder befreit, füge Blut und Gewalt hinzu und fertig ist – ja, was genau? Lynne Ramsay hat mit A Beautiful Day geschafft, was nur wenigen gelingt: einen Genrefilm, der das von ihm bediente Genre dekonstruiert.

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A Beautiful Day - Bild
A Beautiful Day - Bild

Seit 100 Jahren dürfen Frauen in Deutschland wählen. Zu diesem Anlass wählen wir ein ganzes Jahr lang Frauen und Frauenfiguren, die uns beeindrucken. Dazu gehört die britische Regisseurin Lynne Ramsay, deren neuster Film A Beautiful Day neu definiert, was und wie Rachethriller erzählen.

Im Grunde genommen folgt der typische Rachethriller einer einfachen Formel: Der Protagonist ist ein ehemaliger Polizist, Soldat, Elitekämpfer, Agent oder ähnliches, der seine entführte oder ermordete Tochter, Frau, Familie rächt. Dafür muss er seinen gestählten Körper verschiedenen Actionsequenzen aussetzen und am Ende Gerechtigkeit qua Selbstjustiz herstellen. Auf den ersten Blick erfüllt auch A Beautiful Day diese Kriterien: Hauptfigur Joe (Joaquin Phoenix) ist ein ehemaliger Soldat und FBI-Agent, der Kinder befreit, die entführt worden sind. Er rettet sie aus den Händen von Menschenhändlern und Bordellen. Aber er wird dabei weder von persönlichen Motiven noch einem Gerechtigkeitssinn angetrieben. Anders als beispielweise Travis Bickle und Paul Kersey in Taxi Driver und Death Wish läuft Joe nicht Amok, er rächt weder seine Familie noch versucht er, eine bestimmte Person zu retten. Er ist kein Held, sondern ein bezahlter Auftragnehmer betuchter Eltern. 

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Sein neuster Auftrag sieht vor, Nina (Ekatarina Samsonov) zu befreien, die Tochter des aufstrebenden Senators Votto (Alex Manette), die in einem Bordell festgehalten wird. Und Votto will, dass Joe den Entführern weh tut. Denn auch diesen Service bietet Joe: vermittelte, grausame Rache der Eltern. Aber Joe ist auch kein abgestumpftes Werkzeug oder will mit seinen Taten die Gesellschaft ändern oder gar kritisieren. Vielmehr halten sie ihn zusammen. Joe ist ein gebrochener Mann, ein emotionales und psychisches Wrack, das sich regelmäßig mit einer Plastiktüte über dem Kopf selbst die Luft abschnürt, um kurz wieder atmen zu können. Die Rache ist also nebensächlich, hier geht es ums Überleben. 

 

Äußerlichkeiten und Hintergründe

Dazu passt, dass sich Joe auch rein äußerlich schon von den Protagonisten gängiger Rachethriller entscheidet. An die Stelle der Virilität eines John Wick oder Bryan Mills treten ein vernarbter Körper und ungepflegter Bart. Joe unterscheidet sich kaum mehr von Obdachlosen, ja, er verschwindet regelrecht im Straßenbild, würde ihn die Kamera nicht gelegentlich einfangen. Hier ist von einem Actionhelden mit Six-Pack nichts mehr übrig, zumal er sein Erscheinungsbild nicht nutzt, um unauffällig zu agieren. Es ist keine Tarnung. Seine Traumatisierungen haben ihn verändert, sie haben ihn verschwinden lassen, aber eben nur fast. Sobald er sich um seine Mutter kümmert, sind sie nämlich zu sehen, die Fragmente eines Jungen, der er einmal war.

Hierin erinnert Joe auf den ersten Blick an Dwight (Macon Blair), den Protagonisten von Jeremy Saulniers Blue Ruin. Dwight versteckt sich hinter seinem zotteligen Bart, er lebt in einem Auto am Strand von Delaware, sucht sein Essen im Müll und bricht gelegentlich in Häuser ein, um zu duschen. Die Menschen nehmen Dwight nicht wahr, sie übersehen ihn – und im Grunde genommen existiert er auch kaum mehr, seit seine Eltern ermordet wurden. Doch dann erfährt er, dass der Mann, der seine Eltern getötet hat, aus dem Gefängnis kommt. Damit hat er ein Ziel: Er will seine Eltern rächen. Schon mit diesem persönlichen Motiv unterscheidet sich Dwight von Joe, zudem hat Dwight keinerlei Erfahrung im Umgang mit Waffen oder bei strategischen Überlegungen. Er ist nun einmal kein Ex-Irgendetwas, er handelt nicht klug, ist zudem weder edelmütig noch clever. Auch Dwights Rache wird ihren Zweck nicht erfüllen. Sie wird nichts wiedergutmachen, selbst das Gefühl der Vergeltung stellt sich bei Dwight nicht ein. Vielmehr ist ihm anzusehen, wie sich die Gewalt, die er ausübt, langsam in ihn einfrisst. 

Blue Ruin von Jeremy Saulnier
Blue Ruin von Jeremy Saulnier; Copyright: Filmagentinnen

Mit diesem Protagonisten und der sehr langsamen Inszenierung seiner Rache unterläuft auch Saulnier die Genreerwartungen, doch Lynne Ramsay geht noch weiter. Im Gegensatz zu Dwight bekommt Joe kaum eine Hintergrundgeschichte, die sich genregemäß in Flashbacks oder Unterhaltungen nach und nach enthüllt. Stattdessen sind lediglich kurze, blitzartige, bruchstückhafte Erinnerungen an Ereignisse zu sehen, die Joe möglicherweise geprägt haben. Diese Flashbacks sind extrem kurz – anders als beispielsweise in Clio Barnards Dark River, in denen sie deutlich mehr vom Trauma erzählen. Doch es geht nicht um Joes Entwicklung oder Vergangenheit, es geht um seinen Umgang mit den Folgen dieser Erfahrung. 

Diese Charakterisierung korrespondiert mit der Bildsprache. Schon am Anfang von A Beautiful Day sind lediglich Fragmente zu sehen. Fragmente eines Mannes, eines Hotelzimmers, Fragmente einer Erinnerung an eine Kindheit, an Gewalt, an einen Einsatz in einem Kriegsgebiet. Hier geht es – wie sehr häufig in Lynne Ramsays Œuvre – weniger um die Erinnerungen als um assoziative Kompositionen, mit denen Gefühle und Sinneseindrücke verbunden sind. Sie sind sinnlich und sensorisch, aber schwer zu fassen; sie versetzen einen noch tiefer in diese Bilder hinein. Joes Einsätze bei der Befreiung der Kinder sind dann nüchtern festgehalten, nur das das Nötigste wird gezeigt, oft auch mit Bildern von Überwachungskameras. Hier gibt es keine großen Kämpfe und Heldentaten. Joe dringt ein, erledigt die Bewacher mit einem Hammer, greift sich Nina und verschwindet. Doch hier ist der Film nicht vorbei, nach der Rettung deutet sich eine Verschwörung an, deren Showdown ebenfalls in einigen knappen Einstellungen abgehandelt wird. Weder folgt man Joe bei der Suche nach den Schuldigen noch gibt es einen spektakulären Showdown, bei dem der Bösewicht getötet wird. Eine Befriedigung der Rachegelüste bleibt demnach weitgehend aus – einzig Nina erhält die Gelegenheit, sich tatsächlich zu rächen.

  • Taxi Driver von Martin Scorsese
    Taxi Driver von Martin Scorsese

    Taxi Driver von Martin Scorsese

  • Death Wish von Eli Roth
    Death Wish von Eli Roth

    Death Wish von Eli Roth

  • Dark River von Clio Barnard
    Dark River von Clio Barnard

    Dark River von Clio Barnard

  • My Brother The Devil von Sally El Hosaini
    My Brother The Devil von Sally El Hosaini

    My Brother The Devil von Sally El Hosaini

  • Ratcatcher von Lynne Ramsay
    Ratcatcher von Lynne Ramsay

    Ratcatcher von Lynne Ramsay

 

Gewalt und Erinnerung

A Beautiful Day kreist demnach nicht um Gerechtigkeit oder Rache. Ein abgewrackter Held und ein unschuldiges Mädchen sind zwar Stereotypen des Thrillers, in A Beautiful Day werden sie indes zu Fragmenten in einer Erzählung über einen verlorenen Mann und Gewalt. Damit dekonstruiert dieser Film gleichermaßen den Rachethriller sowohl als auch das Männlichkeitsbild, das diesem Subgenre innewohnt. Denn Lynne Ramsay wählt keine ironische Distanz – wie beispielsweise die Coens –, sondern bleibt bei dem körnigen Realismus des britischen Kinos, das sie – mit Clio Barnard und Andrea Arnold – in den vergangenen Jahren eindrucksvoll repräsentiert hat. Wie gut sich dieser Realismus mit diesem Thema verbindet, hat schon Sally El Hosaini in My Brother the Devil gezeigt, ein Kriminalfilm, der von Maskulinität und Rollenerwartungen im Einwanderermilieu erzählt. Auch in A Beautiful Day werden mit Joe zunächst typisch maskuline Handlungen verknüpft – töten, rächen, retten –, tatsächlich sind aber nur Fragmente seiner Persönlichkeit. Sie machen ihn nicht aus, sie halten ihn vorübergehend am Leben. 

Die Fragilität dieses Konstrukts spiegelt sich in jedem Bild, in jedem Schnitt, dazu kündigt der Score von Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood stets einen Wahnsinn an, der ausbrechen könnte. Ton und Bild driften auseinander, überlagern sich, sie lassen einen Sog entstehen, der einen unaufhaltsam abwärts reißt. In diesen Momenten liegen Geschichten – sei es in dem Blick von Nina, in dem ein Erkennen liegt, das herzzerreißend ist, seien es die zerschlagenen Körper von Männern, die Kinder vergewaltigen, oder in den kurzen Flashbacks von Joe. Heilung und Ruhe findet er aber nicht in den Akten der Gewalt, sondern in der Sorge – erst für seine Mutter, später für Nina. Das hier ist kein Mann, der rächt und deshalb zum Helden wird. Das hier ist ein Mann, der eventuell wieder ganz wird, wenn er sich kümmern kann. Das zeigt eine Sequenz, in der Joe die Stadt verlässt, um seine Mutter in einem ruhigen See beizusetzen. Hier ist Frieden und Ruhe zu finden – fast wie in Ramsays Ratcatcher, in dem der junge Protagonist James durch ein sonnendurchflutetes Feld läuft. Es sind die Außenseiter, die Lynne Ramsay interessieren, die Jungen und Männer, die Maskulinität, entstanden durch Härte, Brutalität und Gewalt, hinterfragen und negieren.

A Beautiful Day von Lynne Ramsay, Copyright: Constantin Film
A Beautiful Day von Lynne Ramsay, Copyright: Constantin Film

Damit erscheint A Beautiful Day fast zwingend in der Filmographie von Lynne Ramsay: Zum einen verschiebt sich ihr Fokus von der Femininität in Morvern Cellar und We Need To Talk About Kevin auf die Maskulinität, zum anderen behandelte sie bereits in ihren früheren Filmen Erinnerung und Trauma. Nun aber zieht sie die Zuschauer noch tiefer als in We Need To Talk About Kevin in einen Menschen und ein Leben, die davon bestimmt sind. Indem Lynne Ramsay mit Versatzstücken und Splittern arbeitet, verweist sie auf die vielen Zwischenräume, die zwischen Erinnerungen und Traumatisierungen entstehen – und erzählt zugleich von dem Begehren des Zuschauers, eine Bedeutung, eine kohärente Geschichte aus ihnen zu erstellen. Damit reflektiert sie auch das Prinzip des Filmens und Geschichtenerzählens an sich – und ist sich dabei stets der Konventionen eines Thrillers bewusst, um sie gnadenlos niederzuschlagen. 

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