Die Augen des Engels

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Lost in Siena

Nur wenige Verbrechen sorgten in den vergangenen Jahren für so viel Aufsehen wie die Ermordung der britischen Studentin Meredith Kercher Ende 2007 im italienischen Perugia. Verhaftet und beschuldigt wurden kurz nach der Tat ihre amerikanische Mitbewohnerin Amanda Knox und deren damaliger Freund Raffaele Sollecito. Es folgte, begleitet von hysterischen Medienberichten, ein beispielloser Gerichtsmarathon, der nach langem Hin und Her im März 2015 mit einem letztinstanzlichen Freispruch für beide Beschuldigten endete, während der Kleinkriminelle Rudy Guede schon Jahre zuvor in einem separaten Verfahren als Mittäter verurteilt wurde. Eine vollumfängliche Aufklärung der Geschehnisse scheint nach den jüngsten Entscheidungen mehr als fraglich.
Da der Mord mit wilden Spekulationen um eine aus dem Ruder gelaufene Sex-Orgie gespickt war, stürzten sich Medienvertreter aus aller Welt begierig auf den verheißungsvollen Stoff und formten ihn mitunter nach eigenem Gusto aus. Frucht dieser häufig zweifelhaften Auseinandersetzungen sind zahlreiche Tatsachenbücher, diverse TV-Dokumentationen und der Fernsehfilm Amanda Knox: Murder on Trial in Italy, der im Februar 2011 auf dem US-Sender Lifetime seine Erstausstrahlung feierte. Mit Die Augen des Engels nähert sich nun auch der arrivierte britische Regisseur Michael Winterbottom (The Look of Love) dem spektakulären Kriminalfall, wählt dabei jedoch einen Weg, der alle sensationsgierigen True-Crime-Anhänger nachhaltig verstören dürfte. Auch wenn sich der Titel unverhohlen an das Bild anlehnt, das die Boulevardmedien von Amanda Knox zeichneten, dienen der Prozess und das Verbrechen in erster Linie als Antriebsfeder für ein selbstreflexives, in verschiedene Richtungen strebendes Drama über einen ausgelaugten Filmemacher.

Weder privat noch beruflich läuft es bei Thomas Lang (Daniel Brühl) wirklich rund. Nicht nur vermisst der deutsche Regisseur seine kleine Tochter, die mit seiner Ex-Frau in Amerika lebt. Auch seine Kreativität scheint ihn seit längerem im Stich zu lassen. Als er die Möglichkeit bekommt, die Journalistin Simone Ford (Kate Beckinsale) zu treffen, nimmt er dankend an, weil er den Mordfall, über den sie ein Buch geschrieben hat, für recht ergiebig hält: Im beschaulichen Siena wurde die britische Studentin Elizabeth Pryce (Sai Bennett) bestialisch getötet, von ihrer Mitbewohnerin Jessica Fuller (Genevieve Gaunt) und deren Freund Carlo Elias, wie die italienischen Behörden vermuten. Nachdem die Autorin Thomas über das Verbrechen und den schon einige Zeit laufenden Prozess aufgeklärt hat, beginnt der Filmemacher mit eigenen Recherchen vor Ort, rutscht dabei allerdings in eine handfeste Sinnkrise.

Realität und Fiktion überlagern sich von Anfang an. Immerhin wurden die Orts- und Personennamen abgeändert, obwohl unübersehbar ist, dass die Ereignisse aus Perugia als Vorlage für Die Augen des Engels dienten. Darüber hinaus rät Simone, eine an die real existierende Journalistin Barbie Latza Nadeau angelehnte Figur, dem Protagonisten gleich in einer der ersten Szenen, das Verbrechen nicht in Form einer Dokumentation, sondern als Spielfilm aufzuarbeiten. Alles andere sei zum Scheitern verurteilt. Auf die Spitze getrieben wird das Jonglieren mit Metaebenen, wenn Winterbottom und Drehbuchautor Paul Viragh im weiteren Verlauf die inneren Mechanismen der Filmindustrie und die Frage untersuchen, wie Geschichten erzählt werden sollen. Thomas, der schon bald Schwierigkeiten hat, einen überzeugenden Zugang zu seinem Material zu finden, muss sich mit Produzenten herumschlagen, die eine klare Whodunit-Struktur bevorzugen und an die überdrehte Medienberichterstattung anschließen wollen.

Eben dies, den Umgang der Presse mit dem blutigen Mordgeschehen, greift der Film explizit auf, indem er phasenweise etwas tiefer in die journalistische Subkultur eintaucht, die sich nach der Tat in Siena gebildet hat. Reporter belagern die Hotels des toskanischen Städtchens. Man unterhält sich beim Frühstück über pikante Details und will um keinen Preis neue Entwicklungen verpassen. Eine nimmersatte Meute hat sich in Stellung gebracht, die Persönlichkeitsrechte missachtet, den undurchsichtigen Fall auf Schwarz-Weiß-Muster herunterbricht und die Massen beständig mit neuen Informationen versorgt. Gespiegelt wird die allgemeine Sensationslust auch in der Figur des mysteriösen Bloggers Edoardo (Valerio Mastandrea), dem Thomas während seiner Nachforschungen mehrfach begegnet.

Vor diesem Hintergrund zeichnet Winterbottom das Psychogramm eines Mannes im mittleren Alter, der sein Leben in eine Sackgasse manövriert hat und nun an seiner Unzufriedenheit zu zerbrechen droht. Immer wieder streift der blassgesichtige Regisseur durch die enge Gassen Sienas auf der Suche nach dem entscheidenden Durchbruch, gerät dabei aber ein ums andere Mal ins Straucheln. Ähnlich wie das kalte, labyrinthische Venedig in Nicolas Roegs Klassiker Wenn die Gondeln Trauer tragen verwandelt sich der pittoreske Schauplatz bisweilen in einen düsteren Seelenspiegel, der die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit verwischen lässt. Ein spannender Einfall, der eine Atmosphäre des Unbehagens erzeugt, jedoch überreizt wird, als Thomas‘ Alpträume in den Bereich des plakativen Gothic-Horros abdriften.

Vorhalten kann man Winterbottom sicherlich, dass Die Augen des Engels viele interessante Themen anschneidet, die unterschiedlichen Ansätze aber nicht immer gewinnbringend verknüpft. Manches – etwa die Erinnerung an den Schmerz der Opferfamilie und die ständigen Bezugnahmen auf Dantes Göttliche Komödie – wirkt aufgesetzt. Und an einigen Stellen verrennt sich die Handlung ebenso sehr wie ihre Hauptfigur. Andererseits regt der schwer fassbare Film zum Nachdenken an und wirft drängende Fragen auf, die über eine Ausschlachtung des zugrundeliegenden Mordfalls weit hinausgehen.

Die Augen des Engels

Nur wenige Verbrechen sorgten in den vergangenen Jahren für so viel Aufsehen wie die Ermordung der britischen Studentin Meredith Kercher Ende 2007 im italienischen Perugia. Verhaftet und beschuldigt wurden kurz nach der Tat ihre amerikanische Mitbewohnerin Amanda Knox und deren damaliger Freund Raffaele Sollecito.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Martin Zopick · 28.02.2021

Michael Winterbottom hat den spektakulären Mord an der Studentin Amanda Knox (hier Elisabeth) aufgegriffen und den Fall lediglich brav wiedergegeben. Wir sind am Ende genauso schlau wie die Medien. Den Mörder kennt weder der Regisseur noch der Drehbuchautor und das Publikum schon gar nicht. Wir erfahren nur viel über das lockere Leben von Sensationsjournalismus. Hier pennt jeder mit jedem. Regisseur Thomas (Daniel Brühl) versucht einen Film zu machen, scheitert aber im Vorfeld. Dafür ist ihm Kollegin Simone (Kate Beckinsale) aber im Bett eine Hilfe. Freundin Melanie (Cara Delevingne) führt ihn ins Studentische Nachtleben ein: d.h. koksen, saufen, bumsen bis der Arzt kommt. Dazwischen eingestreut gibt es noch kurze, unpassende horrormäßige Albträume des Thomas und zwecks Anhebung des Niveaus einen Besuch an Dantes Grab inklusive Zitate.
Und damit noch etwas wahre Emotionen hinzukommen skyped Papa Thomas hin und wieder mit seiner kleinen Tochter, die bei seiner Ex in Amerika ist. Ob sich auf deren Augen der Titel bezieht, bleibt ein Rätsel. Nachdem wie man weiß die mutmaßliche Mörderin im zweiten Anlauf freigesprochen wurde, drückt uns Winterbottom noch ein Zitat aufs Auge: ‘Elisabeth ist erhoben zum Reich des Himmels, wo Engel in Frieden leben.‘ Oh Gott, was für ein Graus! Publikumsverarsche mit kulturellem Anstrich. Alternativtitel hätte auch sein können ‘Hohl, leer, ausgebrannt‘. K.V.