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In ihrem herausragenden Langfilmdebüt „All Dirt Roads Taste of Salt“ erzählt Raven Jackson in sinnlichen Bildern eine Lebensgeschichte im ländlichen Teil der US-Südstaaten.

All Dirt Roads Taste of Salt (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Your hands all over me

Huch, einfach mal bitterlich angefangen zu weinen, weil sich zwei Menschen auf der Leinwand innig umarmen. Dazu muss allerdings gesagt werden: Diese Umarmung ist wirklich sehr, sehr lang – und wunderschön. Vielleicht sogar die schönste der bisherigen Filmgeschichte. Der Fokus liegt dabei auf den Händen, minutenlang. Hände, die den Körper des Gegenübers immer fester, immer intensiver umklammern. Wir sehen das rote Shirt von Mack (Charleen McClure) und die blaue Jacke von Wood (Reginald Helms Jr.). Die Gesichter werden von der Kamera kaum erfasst, aber wir hören das Schluchzen und Husten; ebenso hören wir die vielen ungesagten Worte, die in dieser Umarmung stecken.

Wenn ein Film vom Leben eines Menschen erzählt, geschieht das in etlichen Fällen verblüffend schablonenhaft. Handelt es sich um berühmte Personen, werden häufig die Errungenschaften und Schicksalsschläge pflichtschuldig abgehakt – mal in chronologischer Reihenfolge, mal verdichtet auf wenige einschneidende Ereignisse. Stehen fiktive Leute im Zentrum, tauchen diverse Standardsituationen oft nur leicht variiert auf. Letzteres kann fantasielos wirken – als bestünde etwa das Erwachsenwerden aus den immer gleichen Momenten, die sich im Coming-of-Age-Kino etabliert haben.

Die 1990 im US-Bundesstaat Tennessee geborene Drehbuchautorin und Regisseurin Raven Jackson arbeitet in ihrem Langfilmdebüt durchaus auch mit vertrauten Elementen, wenn sich die Protagonistin Mackenzie, genannt Mack (in jungen Jahren verkörpert von Kaylee Nicole Johnson), zum Beispiel durch ihren ruralen Heimatort im Süden der USA bewegt, oder wenn sie mit ihrer jüngeren Schwester Josie (Jayah Henry) das Küssen auf dem Handrücken übt.

Die Aneignung dieser oft reproduzierten Motive durch eine Schwarze Jugendliche ist indes absolut einleuchtend. Durch die Straßen einer Kleinstadt zu radeln, ist schließlich nicht den (weißen) Spielberg-Boys vorbehalten. Und übers Küssen nachzudenken, ist mitnichten ein Privileg der (ebenfalls weißen) Mean Girls, die Plötzlich Prinzessin sind, ihre Cinderella Story erleben oder als Hannah Montana zu Popstars werden.

Darüber hinaus ist die A24-Produktion All Dirt Roads Taste of Salt wiederum etwas durch und durch Eigenes und Besonderes. Ein Film, der vor allem auf das Taktile setzt. In der Eröffnungssequenz berührt Mack bedächtig einen Fisch, den ihr Vater Isaiah (Chris Chalk) fürs Abendessen vorgesehen hat. Und immer wieder – nicht nur bei der großartigen Umarmung zwischen Mack und ihrem Schwarm Wood – sind es die Hände, die Jackson und ihr Kameramann Jomo Fray hervorheben. Hände, die im Schlamm des Flusses wühlen. Hände, die sich beim Flirt fast berühren. Hände, die Trost spenden. Hände, die den Schwangerschaftsbauch in der Badewanne ertasten.

Hinzu kommt die Natur. Blicke in den Regen. Die Grillen zirpen, die Fliegen schwirren. Das mag entfernt an Terrence Malick, vor allem an The Tree of Life (2011), erinnern. In All Dirt Roads Taste of Salt sind jedoch keine besinnlich gemeinten Voice-over-Monologe nötig, um Tiefsinn zu erzeugen. Dieser stellt sich durch die audiovisuellen Mittel ganz von selbst her. Interessanterweise hat Jackson einst als Dichterin angefangen – und überträgt diese Fähigkeit nun bravourös auf die Kunst des bewegten Bildes. Auf Worte greift sie dabei nur sehr gezielt zurück; und auch von einem Score zur Unterstützung der Stimmung wird äußerst selten (dann aber umso wuchtiger) Gebrauch gemacht.

Mit der kleinen Mack beobachten wir die Welt der Erwachsenen – so treffend, wie es bis dato eventuell nur dem Schriftsteller Marcel Proust gelungen ist. Macks Mutter Evelyn (Sheila Atim) legt Lippenstift auf. Später tanzt sie lustvoll bei einer Feier im Familienhaus mit ihrem Ehemann zu If I Were Your Woman, gesungen von Gladys Knight, während sich Mack im Hintergrund aufhält. Irgendwann ist Mack dann die Erwachsene – und die nächste Generation ist da, um all das zu lernen, was Mack lernen musste. Es gebe keinen Anfang und kein Ende, meint Mack zur jungen Lily (Robin Crudrup), als sie mit dieser über den Regen spricht – „it just changes form.“

In einem sanft fließenden Erzählrhythmus wird uns in rund 90 Minuten fast ein komplettes Leben offenbart. Es geht um Schwarze Identität, um Kindheit und Mutterschaft, um Liebe und geschwisterlichen Zusammenhalt. Auf Stille folgt ein Lachanfall, der wieder in Stille übergeht. Was für ein wunderbarer, virtuoser und sinnlicher Film, der – ganz nebenbei – dem Begriff „Handkamera“ eine völlig neue, zauberhafte Bedeutung gibt.

Gesehen beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián.

All Dirt Roads Taste of Salt (2023)

Über mehrere Jahrzehnte hinweg wird das Leben der Afroamerikanerin Mack in Mississippi porträtiert. Der Film begleitet sie von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter.

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