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Ein mexikanisches Mafia-Musical also – selbst wenn man die Wandlungsfähigkeit von Jacques Audiard kennt, überrascht und überzeugt sein neuer Film „Emilia Pérez“ doch auf ganzer Linie.

Emilia Perez (2024)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Neues vom Regisseur mit den vielen Gesichtern

Ob düsteres B-Movie-Remake („Der wilde Schlag meines Herzens“; 2005), wuchtiges Knast-Drama („Ein Prophet“; 2009), Außenseiter-Ballade („Der Geschmack von Rost und Knochen“; 2012), beinharter Migrationsthriller („Dämonen und Wunder“; 2015),  milde ironischer Neo-Western („The Sisters Brothers“; 2018), stilsicherer Episoden-Liebesfilm („Wo in Paris die Sonne aufgeht“; 2021) – scheinbar mühelos wechselt Jacques Audiard von Film zu Film das Genre, verharrt nie auf der Stelle, sondern hat Lust auf Experiment und Risiko, auf Abwege und Ausschweifungen. Mit 72 Jahren längst in einem Alter, in dem andere seines Schlages zu Epigonen ihrer selbst geworden sind, erzeugen seine Filme ein ums andere Mal eine Energie, die die Leinwand zum Beben bringt – so auch mit seinem neuen Werk „Emilia Pérez“, das ebenfalls ganz neue Facetten in dieser vielfältigen Filmographie als Drehbuchautor und Regisseur zutage fördert.

Im Mittelpunkt steht die begabte, aber unterbezahlte Anwältin Rita Moro Castro (Zoe Saldana) aus Mexico-City, die ihr Talent in den Dienst einer großen Kanzlei gestellt hat, zu deren Klienten vor allem Schwerverbrecher und Mitglieder der organisierten Kriminalität gehören. Mit ihrem Schicksal und dem schlechten Gewissen hadernd sucht sie nach einem Ausweg, als ihr ein besonderer Job in Aussicht gestellt wird, der zudem recht lukrativ ist: Der berüchtigte Drogenboss und Kartellchef Juan „Manitas“ Del Monte plant seinen Aussteig aus dem schmutzigen Geschäft. 

Allerdings sind seine Gründe dafür sehr besonders: Seit langem verspürt Del Monte den Wunsch, als Frau zu leben und sich einer geschlechtsangleichenden Operation zu unterziehen. Rita soll diesen schweren Weg nun juristisch beratend begleiten und dafür sorgen, dass die Geschlechtsumwandlung mit einem kompletten Identitätswandel einhergeht, der sämtliche Spuren des früheren Lebens löscht und einen echten Neuanfang ermöglicht – und zwar ohne die Ehefrau Jessi (Selena Gomez) und die beiden gemeinsamen Kinder. Zwar gelingt der gewaltige Schritt, doch vor der brutalen Vergangenheit gibt es trotzdem kein Entkommen.

Der Film ist nicht, wie es den Anschein hat, in Mexiko entstanden, sondern in der Nähe von Paris, weil Audiard nur so die größtmögliche Freiheit für die Gesangs- und Tanznummern gewährleistet sah. Man sieht das nicht. Paul Guilhaumes Kamera versteht es meisterhaft, die Übergänge zwischen nächtlich illuminierten Slum-Szenen und glamourösen Musical-Sequenzen mit aufwendigen Choreographien nahezu bruchlos hinzubekommen.

Dass manche Entwicklung den Gesetzmäßigkeiten des Musicals folgend mal eben lapidar mit einem Song abgehandelt wird – geschenkt. Dies dem Film zum Vorwurf zu machen und ihm einen Mangel an psychologischer Fundiertheit vorzuwerfen, scheint einigermaßen absurd, gerade weil Audiard hier den Gesetzmäßigkeiten des Bühnengenres folgt und man den Figuren mit all ihren Facetten und Ambivalenzen gerne und voller Empathie folgt – bis zum bitteren Ende, das dennoch nicht ohne Hoffnung ist.

Die Songs, die den Film durchziehen, tragen gehörig zum Gelingen der wilden Mixtur bei und erhielten in Cannes den wenig bekannten Preis für den besten Soundtrack des Festivals. Sie stammen aus der Feder des Nouveau-Chanson-Superstars Camille, die ihre Karriere unter anderem als Sängerin bei Nouvelle Vague begann und die bei der Komposition für den Film von ihrem Lebensgefährten Clément Ducol unterstützt wurde, der bereits zum Score von Audiards Wo in Paris die Sonne aufgeht beigetragen hatte. 

Auch darüber hinaus erfuhr Emilia Pérez in Cannes großen Zuspruch. Bis zum Schluss galt der Film als einer der großen Favoriten auf die Goldene Palme und konnte schließlich zwei Ehrungen entgegennehmen: Das gesamt weibliche Ensemble rund um Zoe Saldana, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez und Adriana Paz wurde als beste Darstellerin ausgezeichnet, während Audiard selbst den Preis der Jury erhielt.

Ursprünglich als Filmoper konzipiert, gelingt Emilia Pérez ein überraschender Spagat zwischen Mafiafilm und sichtlich von Telenovelas beeinflusstem Melodram, zwischen vermeintlich seichtem Musical und anspruchsvollen Arthouse-Drama. Ob diese ungewöhnliche Mischung in den Kinos ebenso sehr zündet wie beim Festival in Cannes, das bleibt noch abzuwarten. Zu wünschen wäre es dem Film. Der Schlusssong wird jedenfalls lange im Ohr bleiben, dies zumindest ist gewiss.

Gesehen auf dem Internationalen Filmfestival von Cannes 2024.

Emilia Perez (2024)

Der Film ist eine Musical-Komödie und handelt von einem mexikanischen Drogenbaron, der seine Vergangenheit hinter sich lassen und ein neues Leben als Frau beginnen möchte.

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