Log Line

Das Leben und der Tod, die Liebe und der Sex, Krankheit, Geburt, Rausch, Ernüchterung und die ganze Komplexität des Daseins – in seinem erstaunlich grimmig-heiteren Film entwirft Matthias Glasner das Panorama einer Generation und ihres Kampfes mit dem eigenen Leben und dem Sterben der Eltern.

Sterben (2024)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der schmale Grat

Auch wenn es gleich zu Beginn des Films Lissy Lunies (Corinna Harfouch) ist, die (und zwar wortwörtlich) in der Scheiße sitzt, ist die Misere keineswegs nur auf sie beschränkt. Lissys Mann Gerd (Hans-Uwe Bauer) ist bereits schwer von der Demenz gezeichnet und büxt gerne mal unvollständig begleitet von zu Hause aus. Die Einkäufe erledigen die beiden in waghalsigen Autofahrten, denn Lissy kann zwar noch fahren, braucht aber die Ansagen ihres Mannes, um nicht einfach in die parkenden Autos oder, schlimmer noch, in ein Kind hinein zu rauschen. Man sieht schnell und deutlich: Das kann nie und nimmer noch lange gut gehen. Doch die eigenen Kinder führen längst ihr eigenes Leben und kümmern sich wenig und zudem auch eher ungern um die dahinsiechenden Eltern. Die Katastrophe ist vorgezeichnet – und nimmt alsbald tatsächlich ihren Verlauf.

Natürlich ahnt man schnell, dass es bei dieser vorhersehbaren Katastrophe nicht bleibt. Nach dem ersten Kapitel, das dem Siechtum der Eltern gewidmet ist, nimmt der Film sich im zweiten das Leben von Tom (Lars Eidinger) vor, der als Dirigent zwar beruflich manches erreicht hat, dessen Privatleben aber einem Chaos gleicht. Das Kind, das seine Ex-Freundin Liv (Anna Bederke) erwartet, ist zwar nicht von ihm, sondern von Moritz (Nico Holonics). Doch der ist ein Trottel und so springt Tom ganz selbstverständlich ein.

Die Beziehung mit Ronja (Saskia Rosendahl) ist – das wissen die beiden Beteiligten ganz genau – lediglich eine Affäre, die ohne Folgen bleiben soll. Wie heißt es so schön: „But Life is what happens while you’re busy making different plans“. Währenddessen wollen die Proben zu dem neuen Musikstück, das er gerade mit Orchester und Chor einstudiert, auch nicht rundlaufen. Der Komponist (Robert Gwisdek) ist nicht nur Toms bester Freund, sondern auch ein zutiefst depressiver, verzweifelter und egomanischer Charakter, der allen Mitwirkenden das Leben zur Hölle macht. Und weil das Stück (ebenso wie der Film) den Titel Sterben trägt, ist klar, dass es sich um ein Requiem handelt – nur für wen eigentlich?

Der dritte Handlungsstrang ist Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) gewidmet, einer Zahnarzthelferin, deren Alkoholeskapaden zu gelegentlichen Filmrissen führen, an deren Ende sie sich schonmal ohne jede Erinnerung im Baltikum wiederfindet. Ein strauchelnder Mensch, zügellos, ekstatisch, verzweifelt und dann im nächsten Moment wieder von umwerfendem Charme, dem auch der neue Zahnarzt Sebastian Vogel (Ronald Zehrfeld) erliegt, der eigentlich in München eine Familie hat. Als die beiden zusammenkommen, entsteht eine leidenschaftliche und hemmungslose Affäre, die sich immer mehr zu einer Amour fou auswächst. Denn eine gemeinsame Zukunft traut man diesen beiden nicht zu.

Kunstvoll verschränkt Matthias Glasner diese drei Ebenen miteinander, fügt mit jedem weiteren Kapitel die Auslassungen und Leerstellen der vorherigen und lässt auf diese Weise ein vielschichtiges Panorama einer Familie entstehen. Diese muss man einerseits als dysfunktional beschreiben. Andererseits bietet dieses familiäre Trümmerfeld selbst für scheinbar intakte familiäre Konstellationen genügend Anknüpfungspunkte an, um einen erschreckenden Erkenntnisprozess der eigenen Probleme, Brüche und Lebenslügen in Ganz zu setzen. Liebe und deren Abwesenheit, Lust und Rausch, Geburt, Krankheit und die Unzumutbarkeit des Todes, die Kunst und deren Unmöglichkeit – all das verhandelt Sterben und ist dabei in manchen Momenten von so grimmigen Humor durchtränkt, dass man das eigene Lachen erstaunt registriert und sich fragt, ob man sich dafür nicht letztlich schämen müsste.

Unter vielen guten Szenen, die den Film zu einem enorm komplexen und vielschichtigen Werk machen, ragt eine besonders heraus: Bei einem langen Gespräch am Küchentisch offenbaren sich Mutter und Sohn ihre abgrundtiefe gegenseitige Abneigung. Zuvor hat Luise Tom ihre unheilbare Krebserkrankung ganz nebenbei mitgeteilt. Es ist ein Gespräch von so schockierender Offenheit und tiefsitzender Traurigkeit, dass einem förmlich das Blut in den Adern stockt. Und ich schwöre: Einen intensiveren Dialog, ja ein Duell dieser Schärfe, hat man seit Langem nicht mehr auf der Leinwand gesehen.

Matthias Glasners sehr persönlicher Film Sterben ist ein kühn und herausfordernd konstruierter harter Brocken, fast schon ein Monolith – und das lässt sich nicht nur an der gewaltigen Laufzeit von 183 Minuten ablesen, sondern (natürlich) auch am Titel. Auch wenn nicht jeder Moment sitzt und die Kamera manchmal zu lange auf den Gesichtern bleibt, zu lange deren Gefühle hinter den Fassaden aus Fleisch zu erspüren versucht, ist dies dennoch ein so gewaltiges, kluges und reiches Werk. Einen deutschen Film ähnlicher Intensität wird man lange suchen müssen. Ein Film, der bleibt – sofern man bereit ist, sich darauf einzulassen.

Gesehen auf der Berlinale 2024

 

Sterben (2024)

In „Sterben“ geht es um die Familie Lunies, die schon lange keine mehr ist. Erst als der Tod, der alte Bastard, auftaucht, begegnen sie sich wieder. Lissy Lunies (Corinna Harfouch), Mitte 70, ist im Stillen froh darüber, dass ihr dementer Mann Gerd (Hans-Uwe Bauer) langsam dahinsiechend im Heim verschwindet. Doch ihre neue Freiheit währt nur kurz, denn Diabetes, Krebs, Nierenversagen und beginnende Blindheit geben ihr selbst nicht mehr viel Zeit. Im Zentrum dieses Panoptikums der Todgeweihten aber steht ihr Sohn, der Dirigent Tom Lunies (Lars Eidinger), Anfang 40. Mit seinem depressiven besten Freund Bernard (Robert Gwisdek) arbeitet er an einer Komposition namens „Sterben“ und der Name wird zum Programm. Gleichzeitig macht ihn seine Ex-Freundin Liv (Anne Bederke) zum Ersatzvater ihres Kindes, das eigentlich auch sein eigenes hätte sein können. Toms Schwester Ellen Lunies (Lilith Stangenberg) beginnt währenddessen eine wilde Liebesgeschichte mit dem verheirateten Zahnarzt Sebastian (Ronald Zehrfeld). Die beiden verbindet die Liebe zum Alkohol, denn nichts befreit mehr als ein trockener Martini. Sie verweigert es im System zu funktionieren und wählt stattdessen die Lust und den Rausch. Aber alles im Leben hat seinen Preis. (Quelle: Port au Prince)

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Olaf · 24.04.2024

Auf der Berlinale gesehen. Alleine die Mutter Sohn Szene mit Corinna Harfouch und Lars Eidinger lohnt diesen herausragenden, intensiven, anstrengenden und auf den Punkt kommenden Film.