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In der futuristisch angehauchten Sozialgroteske dient künstliche Intelligenz einmal nicht kommerziellen, sondern sozialrevolutionären Zwecken. Das Filmkollektiv, das für Regie und Drehbuch verantwortlich zeichnet, erzählt von Migranten und „Arbeitssklaven“, die sich solidarisieren.

Die Amitié (2023)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Charmantes Gemeinschaftswerk

„Alle reden von künstlicher Intelligenz. Wir auch.“ Das ist kein offizielles Statement des Filmemacher-Kollektivs hinter „Die Amitié“, aber man könnte ihre Intention wohl so umschreiben. Wenn man hinzufügt, dass KI hier einmal keinen kommerziellen, sondern gesellschaftsverändernden Zwecken dient. Und wenn man nicht verschweigt, dass neben KI noch viele andere Themen diesen ganz eigenen Genremix bestimmen: Migration, moderne Arbeit und Ausbeutung sowie die Probleme überalterter Gesellschaften. Vor allem aber geht es um einen ebenso ernst gemeinten wie utopisch angehauchten Lösungsvorschlag für sämtliche angerissenen Konflikte in einer rauen Mischung aus Sozialsatire, Dokumentation und Zukunftshoffnung. Die Hoffnung: ein freundliches Miteinander auf Augenhöhe.

Den roten Faden der Geschichte spinnen die Schicksale der jungen Polin Agnieszka (Sylwia Gola) und des Afrikaners Dieudonné (Yann Mbiene) von der Elfenbeinküste. Beide begegnen sich erstmals in einem Reisebus nach Lübeck. Agnieszka liest das Buch „Gott segne dich, Afrika“ von Papst Johannes Paul II, Dieudonné studiert „Schwarze Haut, weiße Masken“ vom Freiheitsphilosophen und Kolonialismusgegner Frantz Fanon. Damit sind die entscheidenden Impulse des Films umrissen, die sozialrevolutionäre Haltung und das Motiv der christlichen Nächstenliebe. Schließlich bedeutet „Amitié“ auf Deutsch Freundschaft. Der französische Begriff ist zugleich der Name eines KI-gestützten sozialen Netzwerks. Migranten und andere „Arbeitssklaven“, wie der Film formuliert, schreiben hier Berichte, aus denen die KI lernt und auf Smartphones ihre Dienstleistungen anbietet: die besten Routen, Adressen und Helfer vor Ort, aber auch wundersam effizientes Sprachtraining und kinderleichtes Überweisen von Geld in die Heimat. Agnieszka und Dieudonné profitieren von diesem Netzwerk, werden Mitglieder und geben der menschenfreundlichen KI etwas zurück, indem sie Menschen in Not ein Versteck beschaffen.

Die Tätigkeiten der beiden in der reichen Hansestadt kann man nur als Ausbeutung bezeichnen: Agnieszka ist zur Pflege des demenzkranken Siegfried (Walter Hess) gekommen, rund um die Uhr, ganz auf sich gestellt, während Siegfrieds Sohn Carsten (Christoph Bach) als Professor für ästhetische Theorie zu seinen Lehrveranstaltungen nach Stuttgart pendelt. Dieudonné arbeitet zusammen mit dem Amitié-Aktivisten Osman (Aziz Çapkurt) in einem gigantischen Gewächshaus für Bio-Tomaten. Und zwar für 40 Euro am Tag, denn Chefin Sylvie (Anna Stieblich) bricht einfach das Versprechen von 60 Euro, mit dem Dieudonné aus Italien nach Deutschland gelockt wurde. 

Neben ihrer Funktion als Ausbeuter haben die deutschen Darsteller Bach und Stieblich ihren Figuren aber auch nachdenkliche und ambivalente Züge mitgegeben. Sie sind auf die billige Arbeit der Migranten angewiesen und wissen das auch. In guten Momenten sind sie dankbar dafür, denn ohne die Einwanderer würde ihre Existenz zusammenbrechen. Und so ist der Film kein übliches Sozialdrama, das Missstände lediglich anprangert. Er zeigt zugleich einen Ausweg: Die „Amitié“, also das freundliche Miteinander auf Augenhöhe, würde auch das Leben der beiden Deutschen bereichern. Und vor allem ihr schlechtes Gewissen beruhigen. Denn sicher nicht von ungefähr haben die Filmemacher keine typischen Fieslinge mit Anzug und Zigarre ins Drehbuch geschrieben. Sondern Menschen guten Willens, die selbst Opfer der aktuellen Lebens- und Arbeitsverhältnisse sind und mit denen sich ein typisches  Arthouse-Publikum durchaus identifizieren kann.

Der gesellschaftskritische Aspekt betrifft auch das Filmemachen selbst. Regie gilt den Machern als bürgerliches Konzept. Daher findet man in Ankündigungen und Presseheft unter dieser Rubrik sowie unter „Drehbuch“ jeweils nur das „Filmkollektiv Amitié“. Das umfasst neben den genannten Schauspielern und der Filmcrew auch die Produzenten Ute Holl, Professorin für Medienwissenschaft an der Uni Basel, sowie Peter Ott, der nach eigenen Angaben die erste Drehbuchfassung geschrieben hat und im letzten Filmdrittel als skurriler „Kontaktbeamter“ für schwarzen Humor und chaotische Verwicklungen sorgt. Auch Didi Danquart gehört interessanter Weise als Tonassistent und Kleindarsteller zum Team. Der Filmemacher und Hochschullehrer hatte 1978 zusammen mit seinem Zwillingsbruder Pepe das damalige Filmkollektiv „Medienwerkstatt Freiburg“ mitbegründet, eine der ersten alternativen audiovisuellen Produktionsgemeinschaften in Deutschland.

Zwar begreift man die zentrale Botschaft des rohen, manchmal amateurhaften, aber immer charmanten Gemeinschaftswerks spätestens nach einer halben bis Dreiviertelstunde: Dass die deutsche Gesellschaft dringend auf die Arbeitskraft von Migranten angewiesen ist und dass sie schon aus Eigeninteresse gut daran täte, diese freundlicher zu behandeln. Aber diese Message allein kann den Film nicht tragen, das hat das Kollektiv wohl selbst gemerkt. Deshalb verändert es gegen Ende hin noch einmal den Ton, baut Surreales und Groteskes ein, steigert Tempo und Gagdichte. Allerdings nicht ohne ein zentrales Stilmittel beizubehalten: Immer wieder blicken die Schauspieler eindringlich in die Kamera und damit in die Augen jedes einzelnen Betrachters. Als wollten sie sagen: Beschwert Euch nicht über das Unfertige und Sperrige in diesem Film, sondern nehmt seine Offenheit zum Anlass, die angesprochenen Motive weiter zu denken und miteinander zu besprechen. Das wäre wohl ganz im Sinne der sozialen Utopie, für die der Film mit viel Herzblut wirbt.

Die Amitié (2023)

Zwei Menschen reisen in einem Bus an: AGNIESZKA aus Polen, zur Pflege eines älteren Herrn, der langsam ins Vergessen abdriftet. DIEUDONNÉ von der Elfenbeinküste, um in einem riesigen Gewächshaus zu arbeiten. Sie sind nicht allein. Heerscharen von freundlichen Pflegekräften kümmern sich um verwirrte Deutsche. Arbeitsmigrant:innen ernten, verpacken und liefern Biogemüse aus. Auf den ersten Blick mag dies wie ein Sklavenhalter-System des 21. Jahrhunderts aussehen. Doch die vermeintlich Subalternen kommunizieren über ein perfektes Netzwerk: Die AMITIÉ. Eine selbstlernende künstliche Intelligenz, die in der Lage ist, Informationen auszutauschen, Sprachen zu lehren, Migrationsrouten zu vergleichen, Jobs zu vermitteln und Geld zu transferieren. Eine KI, der sich jede:r anschließen, eine virtuelle Realität, in die jede:r eintreten kann. Freundschaft hat Fraternisieren ersetzt. Wäre da nicht der verrückte Polizist, der auf Schleuserjagd ist!

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