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Kommentar

Jahresrückblick: Ein Jahr (fast) ohne Film-Festivals

Ein Beitrag von Joachim Kurz

Die Corona-Pandemie hat vieles verändert — auch Filmfestivals, die 2020 im Wesentlichen nicht mehr in regulärer Form stattfinden konnten. Joachim Kurz zieht Bilanz zu einem ganz und gar ungewöhnlichen Filmfestival-Jahr.

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Cannes 2019 - Palais des Festivals
Cannes 2019, Palais des Festivals - als noch alles "normal" schien

Was für ein merkwürdiges Jahr das doch war. Dabei fing alles so verheißungsvoll an — und die Nachrichten aus Wuhan schienen alle so weit weg. Das Filmfestival Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken, die Solothurner Filmtage, das Filmfestival in Rotterdam und Sundance zeigten sich im Januar 2020 — eine Ewigkeit scheint das her — unbeeindruckt von den Nachrichten aus China, die immer näher kamen. Und die Berlinale ließ per Pressemeldung zwar verlauten, dass man ein Hygienekonzept erarbeitet habe, vor Ort aber machte alles den Anschein einer fast ganz normalen Großveranstaltung. Rückblickend betrachtet wirkt es wie ein Wunder — so ziemlich das letzte Filmwunder für lange Zeit -, das dort vor zehn Monaten geschah. Und dass die Berlinale nicht zum Superspreader-Event wurde, überwiegt im Nachhinein (ungerechterweise) über die Freude des Neuanfangs durch die neue Leitung Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian. 

Die Freude aber währte nur kurz. Knapp einen Monat später wurden die Kinos in Deutschland zugesperrt und die zahlreichen Filmfestivals, die fürs Frühjahr auf dem Plan standen wurden samt und sonders abgesagt, verschoben oder wanderten, sofern genügend Vorlauf blieb, in den digitalen Raum. Und der spielt seitdem eine ganz neue Rolle bei all den Ankündigungen, Planungen und Veränderungen, die seitdem so ziemlich alle Gewohnheiten auf den Kopf gestellt haben — und dies auch in den nächsten Monaten, wenn nicht gar Jahren tun werden.

 

Das Digitale mitdenken — aber wie?

Sieht man einmal von den Festivals ab, die 2020 ganz absagen mussten — was zumeist mit dem Zeitpunkt zu tun hatte, an denen sie von den neuesten Entwicklungen der Pandemie konfrontiert wurden — , kann man aus diesem Jahr einiges lernen. Zuerst vielleicht in Bezug auf Deutschland zumindest, dass der digital turn, das Mitdenken des Digitalen und das Ausschöpfen von dessen Möglichkeiten, immer noch völliges Neuland ist. Und dabei geht es weniger um das reine Filmabspielen auf verschiedenen Webplattformen, sondern vielmehr um das Drumherum; um all das, was ein Festival unterm Strich von einer VoD-Plattform unterscheidet: Wie inszeniert man Eröffnungen von Filmfestivals im Netz, wie Gespräche mit Filmemachern, Industry-Veranstaltungen, und nicht zuletzt und über allem schwebend die Frage, wie auf digitale Weise der Kontakt zum Publikum initialisiert und ausgebaut werden kann. Wie kann der Austausch zwischen den Filmschaffenden und dem Publikum digital neu gedacht und umgesetzt werden? Oder diese zentrale Funktion von Festivals, die niedrigschwellige Begegnungen zwischen Filmschaffenden und Rezipient*innen bieten, das erste Opfer der Digitalisierungswelle, weil diese Begegnung nur im realen Raum existieren kann? Und bietet nicht vielleicht das Ausweichen in den virtuellen Raum auch Chancen, sich neue, jüngere Publikumsschichten zu erschließen?

Den schnell aufkommenden Hoffnungen so mancher Geldgeber und klammer Kommunen, dass nun mit der Verlegung der Festivals ins Netz alles günstiger werde, muss mal allerdings schnell einen Riegel vorschieben. In Zukunft müssen sich vielmehr bei den Festivals Units herausbilden, die im Prinzip das physikalische Festival noch einmal neu denken und an die Gegebenheiten des Netzes anpassen. Und das wiederum bedeutet keine Einsparungen, sondern vielmehr Neuinvestitionen in nicht unerheblichem Umfang. 

Zudem eignet sich nicht jedes Festival gleichermaßen für den Gang oder die Ausweitung in den virtuellen Raum: Kurzfilme, Experimentelles und Dokumentarfilme (und mit Einschränkungen gilt dies auch für Filme im Genrebereich oder in Special-Interest-Nischen) haben es, das zeigen die Erfahrungen der letzten Zeit deutlich, leichter als Spielfilme. Das liegt nicht allein an Sehgewohnheiten und -präferenzen, sondern auch und vor allem daran, dass die Produzenten, Rechteinhaber und World Sales sehr genau hinschauen, inwiefern eine Festivalauswertung die Chancen für eine spätere Auswertung im Kino, auf DVD oder per VoD beeinträchtigt oder nicht. 

 

Was kommt im neuen Jahr?

Wann und wie es genau 2021 weitergeht, steht in den Sternen und hängt davon ab, wie der weitere Verlauf der Pandemie sein wird. Planbar jedenfalls geht anders, und wenn mich jemand heute fragt, welche Festivals ich nächstes Jahr besuchen werden, dann kann ich nur aus vollster Überzeugung sagen, was zum Mantra des Jahres 2020 geworden ist: „Ich weiß es nicht!“

Das Filmfestival Max-Ophüls-Preis, das IFFR Rotterdam und Sundance finden digital statt, die Berlinale wird aufgespalten in eine Professional-Edition im März und ein Publikumsevent im Sommer und verwundert etwas durch eine Haltung, die einen wichtigen Teil eines jeden Festivals (die Presse nämlich) bislang überhaupt nicht mal ansatzweise erwähnt. Ob Kritiker im März Filme werden sehen können oder erst im Sommer - darüber gibt es bislang keinerlei Auskünfte. Mir stößt das ehrlich gesagt ziemlich auf, auch wenn das Vergessenwerden von Kulturschaffenden und Nicht-Festangestellten im Kunst- und Kulturbereich in den letzten Monaten nun wahrlich nichts Neues mehr ist. Denn nur weil man etwas immer und immer wieder quasi ins Gesicht gespuckt bekommt, macht es das ja kein bisschen besser.

Andere Festivals haben bereits eine physische Ausgabe angekündigt, wie die Diagonale im März und das Crossing Europe im April. Und Cannes, so wurde schon vor längerem bekundet, hat sich zum Ziel gesetzt, das erste große Festival nach der Pandemie zu werden, das wieder eine normale Ausgabe mit physischer Präsenz stattfinden lässt. Wie es alles kommt, das weiß bisher kein Mensch. Und wenn ich etwas aus den Erfahrungen des letzten Jahres gelernt habe, dann ganz sicher, dass nichts über die wirkliche Begegnung und den echten Austausch geht. Weder in den Kinos noch auf den Festivals. 

Gut, möglicherweise war das vorher schon zu ahnen und ist nichts weiter als eine Binsenweisheit. Aber sehr wahrscheinlich braucht es manchmal genau das, wenn über die Segnungen der Digitalisierung gesprochen wird: Ein schmerzhaftes Beispiel aus der Praxis, das verdeutlicht, wie viel gerade auf dem Spiel steht und wie viel verloren zu gehen droht. Dennoch sind viele Erfahrungen aus 2020 zu wichtig, als dass sie in der hoffentlich baldigen Euphorie einer „Rückkehr zur Normalität“ wieder in Vergessenheit geraten sollten. 

 

Es geht um größere Fragen

Es geht dabei nicht allein nur um das Kino und die Festivals, sondern damit verknüpft auch um Fragen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung: Welchen Stellenwert haben Kunst und Kultur in unserem Alltag? Können wir es uns wirklich leisten, diese Teile unseres Lebens als „nicht systemrelevant“ zu kennzeichnen und sie ihrem Schicksal zu überlassen? Müssen wir nicht vielmehr dafür Sorge tragen, dass diese Bereiche gestärkt werden — und zwar nicht allein mit mehr Anerkennung, sondern auch durch mehr Sicherheit in der Finanzierung und das Infragestellen prekärer Beschäftigungsverhältnisse ohne soziale Absicherung, wie sie schon viel zu lange Usus sind? Es muss Festivals zudem auch ein Anliegen sein, auf die Disruptionen innerhalb der Filmwelt aufmerksam zu machen, auf die Machtverhältnisse und -verschiebungen, wie sie auf ökonomischer Ebene gerade im Kampf um das Kino gegen die übermächtig erscheinenden Streaming-Riesen und das veränderte Konsumverhalten der Filmfans stattfinden.

Zugleich geht es aber auch darüber hinaus um Fragen von noch größerer gesellschaftlicher Relevanz: Es geht um die Repräsentanz diverser Sichtweisen auf die Welt, um das Entdecken und Sichtbarmachen von Talenten und Begabungen, Haltungen und Narrationen, durch deren Hilfe wir uns der Vielfalt des menschlichen Lebens annähern und sie überhaupt erst verstehen können.

Die Anforderungen, denen sich die Filmfestivals stellen müssen, sind also keineswegs nur diejenigen, die durch die Pandemie erforderlich wurden, sondern zugleich die Folgen eines hoffentlich gesamtgesellschaftlichen Wandels, der sich in den nächsten Jahren vollziehen wird — und damit eine Aufgabe von ungeheurem Ausmaß, die neben viel Fantasie und Mut vor allem eines erfordert: eine deutlich bessere finanzielle Ausstattung.

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