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Kolumnen

Wie wir von Verbrechen erzählen

Ein Beitrag von Sonja Hartl

Zu Ted Bundy gibt einen neuen Film und eine Serie. Quentin Tarantino greift den Charles-Manson-Mythos auf. Ava DuVernay widmet sich den „Central Park Five“. Die Faszination für wahre Fälle scheint ungebrochen. Doch Sonja Hartl findet, es ist an der Zeit, diese Geschichten anders zu erzählen.

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"When They See Us" von Ava DuVernay
"When They See Us" von Ava DuVernay

Sie verstehe einfach nicht, was an Serienkillergeschichten so faszinierend sei, sagte vor einigen Wochen eine Kollegin anlässlich des Erscheinens von Thomas Harris ziemlich misslungenen Romans „Cari Mora“ zu mir. Und ich versuchte es ihr zu erklären, ist doch Thomas Harris der Schöpfer von Hannibal Lecter, dem womöglich berühmtesten Psychopathen der Literatur- und Filmgeschichte, und damit der Figur, die bei mir in den 1990er Jahren eine regelrechte Besessenheit von Serienmördergeschichten ausgelöst hat. Heute sehe ich das alles viel kritischer, aber letztlich kann ich nicht verleugnen, dass mein Wissen über Serienkiller insbesondere in den USA durchaus beachtenswert ist. 

Nun aber griff ich auf die gängigen Erklärungen zurück: Serienmörder verkörpern das grundlos Böse, ihr Handeln ist losgelöst von jeglichen moralischen Grundsätzen, jenseits aller Menschlichkeit. Und das ist so unverständlich, dass man es verstehen will. Man will ergründen, was sie antreibt. Tatsächlich passt diese Erklärung sehr gut zu meiner Erfahrung. Wenn ich zurückdenke, ist meine Faszination für Serienkiller untrennbar mit der Faszination für Profiler verbunden gewesen, jene tapferen Männern und Frauen, die versuchen, diesen Tätern auf die Spur zu kommen. Clarice Starling und Will Graham gehören zu Hannibal Lecter, Samantha Waters zu „Jack“ (Profiler) und Criminal Minds hat sich eh nie von dem Ausscheiden der Figur Jason Gideon erholt.

Zwei Dinge fallen auf: Zunächst einmal habe ich als Beispiele ausschließlich fiktionale Bearbeitungen angeführt – sicherlich teilweise von tatsächlichen Ereignissen inspiriert, aber letztlich Fiktionen. Außerdem wird genau diese Erklärung auch herangezogen, wenn es um den vor allem von dem Podcast Serial und Serien wie Making a Murderer wieder einmal neu entfachten Boom von True Crime geht. Auch hier ist es die Faszination des Bösen, das nun nicht nur grundlos ist, sondern tatsächlich stattgefunden hat. Deshalb gibt es allein in diesem Jahr eine neue Serie und einen Film zu Ted Bundy und Tarantino spielt mit dem Charles-Manson-Mythos. Gerade Bundy und Manson verkörpern die beliebte Serienmörder-Fantasie: charismatische Männer, denen die Menschen in ihrem Umfeld verfallen sind und die mit ihren Taten lange durchgekommen sind. 

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True Crime als Gegenerzählung

Dass sich dieses Bild hartnäckig hält, liegt an den Geschichten, die über sie erzählt werden. Die Netflix-Serie Ted Bundy: Selbstporträt eines Serienmörders versammelt Interviews, die er während seiner Zeit im Todestrakt gab und überlässt ihm damit die Deutung seiner Taten und seiner Person. Damit verfestigt sich das Bild, das er von sich errichten wollte. Doch genau hier können True-Crime-Formate etwas entgegensetzen. 

True Crime ist immer mit einem realen Ort und Ereignis verbunden, meistens geht es darum, eine Art Gerechtigkeit herzustellen – meistens für die Opfer oder Falschverurteilte. Dazu entwickelt der*die Autor*in einen Fall für die Rezipienten, indem er Beweismittel neu bewertet oder neues Beweismaterial einbringt. Diese neu geschaffene Erzählung – und das sollte man sich stets bewusst machen – ist niemals neutral. Das Verbrechen ist real, aber auch True-Crime-Formate erzählen letztlich eine weitere Geschichten zu wahren Ereignissen, die zumeist eine Alternative zu einer bereits bekannten Geschichte ist: Serial sagt, Hae Min Lees Mörder läuft noch frei herum. The Jinx erzählt, dass Macht, Geld und Gerissenheit einem Mörder ermöglichen, der Gefangennahme zu entgehen. Und Making a Murderer ist eine Geschichte über das Erzählen einer Geschichte, in dem die Serie die Argumentation aufbaut, dass von der ersten Ermittlung der Charakter „Steven Avery, der Mörder“ entwickelt wurde – und die Serie liefert nun eine Gegengeschichte über Täuschung und Inkompetenz. 

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Alle drei Beispiele spielen mit ihrer Subjektivität – und allen Macher*innen wurde vorgeworfen, dass sie zu stark eingegriffen haben. Tatsächlich strukturieren insbesondere Serial und The Jinx ihre Geschichte sehr stark um die jeweiligen Erzähler*in, um persönliche Interaktionen und Beziehungen. Sie verwandeln die Beteiligten gewissermaßen in Charaktere, beeinflussen damit die Wahrnehmung der Rezipienten und dennoch haben sie den Vorteil, eine „wahre“ Geschichte zu erzählen. Weder der Vorwurf noch das Konzept sind neu. Schon bei Truman Capotes Kaltblütig wurde über die Grenze zwischen Report und Fiktion gesprochen, einen früheren True-Crime-Boom hat 1980 Ann Rule mit ihrem Buch The Stranger Beside Me ausgelöst, in dem sie von ihrer persönlichen Bekanntschaft mit Ted Bundy erzählt. 

Deshalb sind die Kritik und die Diskussionen bspw. zu Serial oder auch Making a Murderer berechtigt und wichtig, aber diese Formate zeigen auch, wie man einer bekannten Geschichte etwas entgegenstellen, indem man die Perspektive verändern. Und darin liegt die Chance, grundlegend die Aufmerksamkeit zu verlagern. Gerade bei Serienkillergeschichten geht es fast immer um die Täter. Ihre Opfer sind allenfalls Beweis für die Skrupellosigkeit, Grausamkeit des Täters; sie sind Mittel, seine Überlegenheit zu unterstreichen. Überwiegend sind sie weiblich. Interessant aber nur, wenn sie berühmte Schauspielerinnen oder noch Kinder sind: Sharon Tate, Madeline McCann, JonBenét Ramsay beispielsweise. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass sie blond und weiß sind.

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Veränderte Perspektiven

Doch dieser bisherigen Erzählweise lässt sich etwas entgegensetzen. Die BBC-Serie The Yorkshire Killings rückt die Opfer des Yorkshire Killers in den Mittelpunkt. Die Historikerin Hallie Rubenhold hat mit The Five sehr lesenswertes Buch über die Opfer von Jack the Ripper geschrieben hat. Beide Beiträge machen deutlich, wie sehr die Misogynie auf Seiten der Ermittler die Ermittlungen behindert haben. Erst kürzlich sagte Rubenhold in einem Interview, dass sie seither angegriffen wird, weil sie mit der Annahme aufräumt, die ermordeten Mary Ann Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Stride, Catherine Eddowes und Mary Jane Kelly seien alle Prostituierte gewesen. Das rüttelt für viele an dem Mythos Jack the Rippers, der ebenfalls über Jahrzehnte aufgebaut wurde. Doch genau darum geht es: Sowohl die Serie als auch das Buch zeigen, dass eine neue Perspektive neue Erkenntnisse ermöglicht – und die bestehenden Mythen angreifen kann. 

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Auch Ava DuVernay verändert in When They See Us die Perspektive. Ihre Miniserie erzählt von dem Fall von fünf Jugendlichen aus Harlem, die fälschlicherweise verurteilt wurden, eine weiße Joggerin im Central Park vergewaltigt zu haben. Bekannt als „Central Park Five“ – und Trisha Meili als „Central Park Joggerin“ – konzentriert sich DuVernay auf die emotionale Seite der Geschichte und versucht Antron McCray (Caleel Harris), Kevin Richardson (Asante Blackk), Yusef Salaam (Ethan Herisse), Raymond Santana (Marquis Rodriguez) und Korey Wise (Jharrel Jerome) von dem stigmatisierenden, bereits eine Gang evozierenden Namen zu befreien. Von vorneherein ist klar, auf wessen Seite sie steht, es ist durch die Musik und die Bilder deutlich zu erkennen, dass sie mit Emotionalisierungsstrategien arbeitet und keine Objektivität anstrebt. Aber es geht auch nicht um ihre Beziehung zu den falsch Verurteilten, sondern sie kommt über die emotionale und subjektive Geschichte von Antron McCray, Kevin Richardson, Yusef Salaam, Raymond Santana und Korey Wise zu einer fundierten Kritik an dem systemischen Rassismus der Justiz in den USA. 

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Ein wahrer Fall wird damit in einer dezidiert emotionalen und subjektiven Behandlung zu einer Aussage über etwas Systemisches – und genau hierin liegt die große Kraft von Geschichten von wahren Verbrechen. Es sollte nicht in erster Linie darum gehen, dass Grauen von Taten noch einmal zu erwecken. In vergangenen Fällen lassen sich Kontinuitäten erkennen – Rassismus, Misogynie zum Beispiel – die ins Heute übertragen werden. Zudem kann man die Aufmerksamkeit verschieben. Und dank der durch Podcasts und das Internet erweiterten Plattformmöglichkeiten kann sich jede*r einem alten Fall annehmen und versuchen, ihm auf den Grund zu gehen, eventuell sogar zu seiner Aufklärung beitragen und die Perspektive, die Aufmerksamkeit verlagern. Die Art und Weise, wie von Verbrechen erzählt wird, und wer im Mittelpunkt dieser Geschichte steht, sagt auch etwas über die Gesellschaft aus. Deshalb müssen wir neue Wege finden, diese Geschichten zu erzählen. 

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