Neue Deutsche Sinnlichkeit: Poesie, Kino der Körper & märchenhaft schöne Bilder
Ein Beitrag von Urs Spörri
Dem deutschen Kino fehlte es bislang an Poesie. Wo findet man diese Bilder, in denen man schwelgen kann und von denen man will, dass sie nie enden? Ein Gefühlskino, das gekonnt immer knapp am Kitsch vorbei navigiert und den unvoreingenommenen Besucher glücklich machen kann?
Jonathan von Piotr J. Lewandowski, der als deutscher Beitrag in der Berlinale-Sektion „Panorama“ lief, steht stellvertretend für eine „Neue Deutsche Sinnlichkeit“. Eine neue Welle, nach der die deutsche Filmlandschaft so lange dürstete.
Dabei wurde Jonathan von Branchenvertretern heftig kritisiert: Der Film sei unglaubwürdig in so vielen Facetten, dass man sich nicht auf ihn einlassen könne. Figuren, deren Auftauchen nur mittels eines winzigen Hinweises gerechtfertigt wird? Geschenkt. Es sind Menschen, die viel zu schön für die karge Realität eines Bauernhofes sind, auf dem der Vater im Sterben liegt und harte Arbeit den Alltag dominiert. Aber dann ergibt es eben doch dramaturgisch Sinn: Wir sollen uns mit Haut und Haar auf diese Liebesgeschichte zwischen Jonathan und Anka einlassen. Und auf die beiden Liebesgeschichten der älteren Familienmitglieder obendrein. Natürlich habe ich mich zwischendurch auch geärgert über diesen Jonathan. Muss das sein? Immer noch eins drauf? Doch dieser Abwehrreflex stammt vermutlich aus einer anerzogenen Sehgewohnheit, die uns im deutschen Kino seit langem aufgezwungen wird. Darf ein deutscher Film so luftig-leicht sein? Lewandowskis Protagonistin Anka steht mitten im Leben, ist eine attraktive moderne Frau mit kurzem gepunkteten Kleidchen, was vielleicht seit Lilo Pulver in Billy Wilders One, Two, Three nicht mehr so selbstbewusst und zugleich naiv im deutschen Kino getragen wurde.
Also: Warum um alles in der Welt kommt sie auf diesen Hof – und bleibt dann auch noch zumeist glücklich lächelnd dort? Es knistert in jeder Einstellung und bei jeder noch so schmutzigen Arbeit, die diese schönen Menschen zu keinem Zeitpunkt in ihrer Schönheit reduziert. Das klingt für Sie nach Seifenopern à la Gute Zeiten, schlechte Zeiten? Aber nur auf den ersten Blick! Lewandowski denkt diese Elemente konsequent zu Ende, beobachtet zwischendurch auch mal ausführlich einen Schmetterling beim Davonfliegen (in Großaufnahme!) und lässt das Schwelgen in visueller Anmut zu. Und er ermöglicht allen Beteiligten ihre emotionale dramaturgische Zuspitzung, bis sich früher oder später alle mit ihrem jeweiligen love interest lustvoll im Bett, Stroh oder gar im Kornfeld wälzen. Tränen im Publikum inklusive. Beim Q&A nach der Premierenvorstellung von Jonathan fiel unter langanhaltendem Applaus das Kompliment: „Danke für die wahrscheinlich sinnlichste Sexszene im deutschen Film der nächsten 50 Jahre!“
Clip aus Jonathan von Piotr J. Lewandowski
Es ist die Körperlichkeit, die physische Präsenz. Gepaart mit Magie und Poesie. Einfach: Schönheit. Man schwelgt in Bildern. Oder stilisiert sie zur schönen Kunst, wodurch die Dramaturgie für einige Momente stillzustehen scheint. Ein Bedürfnis, das bei einem anderen deutschen Vertreter auch preiswürdig war – so wurde Doris Dörries Grüße aus Fukushima vom Internationalen Verband der Filmkunsttheater ausgezeichnet mit der Begründung: „Grüße aus Fukushima ist der Inbegriff von Filmkunst. Ein poetischer Film, der uns eindringlich daran erinnert, dass das Leben so einzigartig ist wie ein Traum.“ Derlei Komplimente ließen sich für einige aktuelle deutsche Filmemacher und Werke vergeben, die ich hier einmal in unsortierter Abfolge auflisten möchte und die diesem Kino der „Neuen Deutschen Sinnlichkeit“ zugeordnet werden könnten – sei es durch ihre außergewöhnlichen Perspektiven, ihre Farben, ihre Poesie, ihre Körperlichkeit oder auffällig visuelle „Andersartigkeit“:
Piotr J. Lewandowski: Jonathan / Janek (Kurzfilm) / Fliegen (Mittellanger Film)
Lena Knauss: M wie Martha / Kirschrot / Streiflichter / Geister, die ich rief (allesamt Mittellange Filme)
Uisenma Borchu: Schau mich nicht so an
Nicolette Krebitz: Wild
Henri Steinmetz: Uns geht es gut
Julia C. Kaiser: Die Hannas
Arne Körner: The Bicycle
Johannes Schmid: Agnes
Jonas Rothlaender: Fado
Samuel Perriard: Schwarzer Panther
Jakob M. Erwa: Die Mitte der Welt
Martin Hawie: Toro / Camille
Florian Hoffmeister: Die Habenichtse
Anne Zohra Berrached: 24 Wochen
Ana-Felicia Scutelnicu: Anishoara / Panihida
Paola Calvo: Violently Happy (Dokumentarfilm)
Dieter Berner: Egon Schiele – Tod und Mädchen
Christian Schwochow: Paula
Nana Neul: Stiller Sommer
Olaf Kraemer: 5 Frauen
Sven Taddicken: Gleissendes Glück
Ingo Haeb: Das Zimmermädchen Lynn
Godehard Giese: Die Geschichte vom Astronauten
Jules Herrmann: Liebmann
Max Linz: Ich will mich nicht künstlich aufregen
Ramon Zürcher: Das merkwürdige Kätzchen
Bastian Günther: California City / Houston
Nicolas Steiner: Above and Below
Timm Kröger: Zerrumpelt Herz
Mara Eibl-Eibesfeldt: Im Spinnwebhaus
Max Zähle: Schrotten!
Thomas Stuber: Herbert
Rudolf Thome: Pink / Das rote Zimmer / Ins Blaue
Doris Dörrie: Kirschblüten — Hanami / Grüße aus Fukushima
Robert Thalheim: Westwind
Florian Cossen: Das Lied in mir / Coconut Hero
Chris Kraus: Vier Minuten
Michael Schorr: Schultze gets the Blues
RP Kahl: Bedways / Angel Express
… to be continued (und ohne Anspruch auf Vollständigkeit) …
„Freischwimmer“ benannte Filmkritiker Frédéric Jaeger im Mai vergangenen Jahres eine neue Welle, die er durch eine Verbindung aus „Magie, Neu-Berliner Realität und Poesie“ gekennzeichnet sieht. Max Linz und Ramon Zürcher zählte er aus der oben stehenden Liste dazu, ebenso die dffb-Filmemacher Jan Bachmann, Julian Radlmaier und Alexandre Koberidze mit ihren Kurzfilmen. Auch wenn der Kern jenes Begriffs „Freischwimmer“ ein wesentliches Element der Filme trifft, wird er den kunstvoll sinnlichen Werken insgesamt jedoch nicht gerecht. Vielmehr ist die Deutung richtig, dass diese Filme emotionalen Impulsen folgen und eine zusätzliche, überaus kunstvolle visuelle Ebene gestalten. Sie wollen sich freischwimmen von diesem Zwang zum Realistischen. Das eint sie. „Die Gesetze, denen die Welten gehorchen, sind zunächst einmal künstlerische, nicht realistische“, schreibt Jaeger.
Trailer zu Zerrumpelt Herz von Timm Kröger
Auffällig ist das Märchenhafte, das gleich mehreren der oben aufgeführten Stoffe anhaftet – von Timm Krögers Zerrumpelt Herz bis hin zum Westernmärchen Schrotten! von Max Zähle, der beim Saarbrücker Max Ophüls Preis als Publikumsliebling ausgezeichnet wurde. Auch hybride Strukturen zwischen Essay, Dokumentarischem und Fiktion wie bei Bastian Günthers California City oder Nicolas Steiners Above and Below finden sich hier wieder. Oder wenn sich die Perspektiven verschieben, inhaltlich und ästhetisch, wie eindrucksvoll zu beobachten bei Das merkwürdige Kätzchen von Ramon Zürcher oder Das Zimmermädchen Lynn von Ingo Haeb. Und neben den vielen Jungfilmern tauchen zwei Regie-Altmeister in der Liste auf, mit Doris Dörries jüngsten Japan-Filmen und dem Spätwerk Rudolf Thomes. Ganz neu ist diese Welle ohnehin nicht, wie die beinahe schon als moderne Klassiker geltenden Vier Minuten (Chris Kraus, 2006) und Schultze gets the Blues (Michael Schorr, 2003) aufzeigen. Aber lange waren es Einzelfälle, durch die Vielzahl an Talentfilmen mit einem Bedürfnis nach Veränderung sind es jetzt auffällig viele. Alle genannten Filme zeichnet aus, dass sie einen wohltuend eigenständigen Rhythmus der Montage aufweisen und deutlich sinnlicher als viele ihrer aktuellen Mitstreiter aus deutscher Produktion daherkommen, sowohl auf der Leinwand als auch in ihrer Wirkung auf den Kinobesucher. Es handelt sich offensichtlich um eine Welle, eine „Neue Deutsche Sinnlichkeit“ könnte sie passenderweise genannt werden.
Trailer zu Vier Minuten von Chris Kraus
Der karge Realismus, den wir spätestens seit der Berliner Schule – aber im Grunde eigentlich schon seit dem Oberhausener Manifest – als Kernelement im deutschen Film ausmachen, wird vielerorts längst nicht mehr hinterfragt und als gottgegeben hingenommen. Drehbücher, die seitenlang die Schönheit der Bilder beschreiben, haben bei Fördergremien keine Chance. Wie auch? Die Handlung würde nicht vorangetrieben, das könne man verdichten, so lautet die gängige Absage. Das führt dann dazu, dass großen Regietalenten (wie beispielsweise der Ludwigsburger Filmakademie-Absolventin Lena Knauss, die mit ihren drei faszinierend-schönen Mittellangen M wie Martha, Kirschrot sowie Geister, die ich rief längst eine visuell starke Handschrift bewiesen hat) der Weg zum jeweils nächsten Projekt erschwert wird. Wenn es in Deutschland sinnlich zu werden droht, mangelt es den einflussnehmenden Entscheidern an Dramaturgie und Spannungsbogen. So lautet dann die Kritik. Aber würde man in Deutschland auch einem Drehbuch von asiatischen Meistern wie Wong Kar-Wai oder Hou Hsiao-Hsien vorwerfen, dass ihre wunderschönen Bilder teils dramaturgisch unmotiviert wirken könnten? Ich fürchte, ja.
Warum wird im Ausland so oft Fassbinder als letzter großer Held des deutschen Kinos verehrt? Er hatte bei allen theatral wirkenden Elementen auch immer eine poetisch-visuelle Kraft, die eine Sogwirkung entfaltete und faszinierte. Letztlich sind es diese Elemente, die auch die besten Filme eines Werner Herzog und Volker Schlöndorff beschreiben würden. Wo also ist die Poesie im deutschen Kino geblieben? Selbst bei der wohl spannendsten und energiereichsten gegenwärtigen Bewegung, dem German Mumblecore mit seinem improvisierten Kino, orientiert man sich häufig am Realismus und erzählt tragikomische Alltagsgeschichten. Die hervorzuhebende Ausnahme dabei ist sicherlich Axel Ranisch, der ein zutiefst sinnliches Körperkino mit seinen hünenhaften Mimen Heiko Pinkowski und Peter Trabner inszeniert und in seinem Arbeitseifer mit der liebevoll aufgebauten Filmfamilie fast schon wie ein moderner Fassbinder wirkt (wenngleich deutlich menschlicher). Sinnliches Körperkino par excellence bietet übrigens auch Peter Kurths dem Tode entgegengehender Boxer, der in Thomas Stubers Herbert (Start am 17.3.) nach der Deutschlandpremiere bei den Hofer Filmtagen zu Recht mit minutenlangen stehenden Ovationen bedacht wurde. Kamera und Schauspiel gehen in Herbert Hand in Hand, es ist ein sinnliches Kino, das das Bild des vom Protagonisten geliebten Aquariums auch visuell auf den Boxring zu projizieren vermag.
Trailer zu Herbert von Thomas Stuber
Die Filmhochschulen und deren Dozenten unterrichten mantraartig: Erzählt Geschichten, die ihr selbst erlebt habt. Milieus, die ihr kennt. Figuren, die euch nahestehen. Das führt dann aber leider zu einem anderen Realismus, als es ein Klaus Lemke oder Roland Klick in den 1960er und 1970er Jahren noch auf packendste Weise präsentierten. Der Realismus heute ist eintöniger, wirkt banaler und kommt – nicht zuletzt durch das häufige Herunterbrechen auf Konflikte in Familienkonstellationen – bisweilen harmlos daher. Deshalb scheint der Impuls, sich davon mit einem sinnlicheren Kino zu lösen, nur allzu berechtigt.
Piotr J. Lewandowski kämpfte nach seinen bereits visuell beeindruckenden Kurzfilmen Janek und Fliegen jahrelang darum, seine Handschrift behalten zu dürfen. Die Widerstände waren immens. Man kann ihn dafür bewundern, dass er sich (noch dazu bei seinem Langfilmdebüt!) mit Jonathan ganz offensichtlich durchsetzen konnte und einen Leuchtturm dieses Kinos der „Neuen Deutschen Sinnlichkeit“ gestalten durfte. Viele andere Regietalente scheitern derzeit noch an diesen Widerständen.
Mein Appell an alle Entscheider lautet: Lassen Sie dieses sinnlichere Kino in Deutschland zu! Poesie ist kein Schimpfwort, sondern ein Prädikat. Haben Sie Mut und vertrauen Sie Filmemachern, die bereits eine sinnliche Handschrift erkennen lassen. Es wird sich lohnen.
Zu einer textlichen Fortführung der Gedanken zur Neuen Deutschen Sinnlichkeit vom 16.12.2016 geht es hier.
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