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Wie Dokumentarfilme von Asyl, Flucht und Migration erzählen

Ein Beitrag von Teresa Vena

Anlässlich des Kinostarts von „Picknick in Moria – Blue Red Deport “ lohnt es sich, einen Blick auf die wichtigsten Dokumentarfilme zum Thema Asyl, Flucht und Migration zu werfen.

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Für Sama / Liebe, D-Mark und Tod / Love is not an Orange
Für Sama / Liebe, D-Mark und Tod / Love is not an Orange

Es scheint in den vergangenen Jahren eine besondere Fülle von Dokumentarfilmen gegeben zu haben, die sich mit den Themen Migration, Flucht und Asyl beschäftigen. Doch in welcher Form wird das aufgegriffen, bearbeitet und letztlich präsentiert? Wer wirkt hier als erzählerische Instanz, welche Perspektive wird gewählt — und welche Folgen hat das für den Film?

 

Eine immersive Sicht von innen heraus

Antworten auf diese Fragen lassen sich finden, wenn man darauf achtet, wer die Autoren und Autorinnen dieser Filme sind — was nicht immer klar ist. Es ist selten der Fall, dass die Personen, die sich unmittelbar in einer Situation der Flucht, der Asylsuche oder der Migration befinden, selbst die Autor*innen der Filme sind. Sicher ist es möglich, mit Mobiltelefonen, wenn sie vorhanden sind, heute solche Dokumente anzufertigen. Manchmal fließen Aufnahmen dieser Art auch in spätere Filme ein, in einzelnen Fällen bestehen sie fast gänzlich daraus. Ein Beispiel ist Saudi Runaway von Susanne Regina Meures, der nicht wenige Kontroversen ausgelöst hat. 

Nach der Weltpremiere des Films in Sundance und einer Vorführung auf der Berlinale zog die Protagonistin, eine junge Frau, die von Saudi-Arabien nach Europa floh und dies mit ihrem Mobiltelefon dokumentierte, das sie wie ein Videotagebuch nutzte, ihr Einverständnis an der Nutzung des Materials zurück. Der Film durfte nicht mehr aufgeführt, sein Kinostart musste abgebrochen werden. Dieser Fall ist aus mehreren Gründen interessant. Er wirft nämlich, abgesehen von rechtlichen Fragen, auch Fragen der Autorenschaft auf. Die Regisseurin, die den Film signiert, hat den Schnitt übernommen, eigenes Material hat sie nicht beigesteuert. Ist es dennoch noch ihr Film? Durch die absolute Ich-Perspektive der Protagonistin fehlt zudem eine kontextualisierende Ebene und eine Mindestdistanz, die man meist als unumgänglich ansieht, um einem Werk seine professionelle — nicht manipulative, nicht propagandistische — Seite anzuerkennen.

Ähnliche Diskussionen haben auch Werke wie Für Sama ausgelöst. Die Aufnahmen des Films sind während des militärischen Konflikts in Syrien entstanden. Die Kamera zur Hand hat Waad al-Kateab (ein Pseudonym der syrischen Aktivistin) Zerstörung, Verletzungen, Tode eingefangen, die sicherlich keine*n Zuschauer*in unberührt lassen, sie/ihn doch in den meisten Fällen überfordern. Das spricht sicherlich nicht gegen den Film, doch stellt sich dennoch die Frage der Pietät oder der Pietätlosigkeit gegenüber den vielen explizit gezeigten Opfern, die nie ihr Einverständnis geben konnten, so gezeigt zu werden. Für Sama hat auf jeden Fall eine Schwelle überschritten in Bezug auf visuelle Unmittelbarkeit der Gewalt, des Leids und der Bedrohung. 

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Nicht weniger eindrücklich und auch in seinem Mangel an Perspektiven vergleichbar mit den beiden erwähnten Filmen ist Little Palestine – Diary of Siege von Abdallah Al-Khatib. Die Brutalität des Gezeigten ist hier nicht weniger aggressiv. Schauplatz ist Yarmouk, ein Viertel in Damaskus, das palästinensische Flüchtlinge aufgenommen hat. Die syrische Regierung hat es nach und nach zu einem umzäunten Lager gemacht, in den und aus dem die Einwohner des stadtgroßen Bezirks nicht mehr frei hinein- und hinauskonnten. Sie konnten keiner Arbeit außerhalb von Yarmouk nachgehen, konnten keine Lebensmittel besorgen und waren den Zugeständnissen der Regierung ausgeliefert. Durch den militärischen Konflikt in Syrien verschärften sich die Bedingungen, die Palästinenser wurden immer mehr sich selbst überlassen und massiv militärisch angegriffen, wenn sie Versuche unternahmen, aus dem Lager auszubrechen. Der Autor des Films, der ebenfalls der Form eines Videotagebuchs entspricht, ist selbst Einwohner des Lagers. 

 

Die Sicht von außen aus dem Inneren 

Eine Sicht von innen heraus, aber durch den Zusatz einer Außenperspektive ist eine andere Art, Dokumentarfilme zu machen. Dafür steht Picknick in Moria von Lina Lužyte. Auch ihr Ansatz ist unmittelbar, direkt. Die Filmemacherin, die, unterstützt von einer zweiten Person, selbst die Kameraarbeit übernommen hat, bemüht sich, den Protagonist*innen den größtmöglichen Raum zu geben. Das bedeutet, dass die Bildmotive, die Handlung so wenig wie möglich geführt ist. Ziel des Filmes ist in erster Linie eine Bestandsaufnahme, das Vermitteln einer Stimmung, die Information. 

Angetrieben sind Filme wie dieser vom Wunsch, auf eine dringende Situation aufmerksam zu machen. Sie sind noch keine Aufarbeitung, sie stellen noch keine größeren Zusammenhänge her. Dieser Schritt muss der Zuschauer allenfalls selbst gehen. 

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Aus einem ähnlichen Antrieb heraus ist auch Sabaya des irakisch-kurdisch-schwedischen Regisseurs Hogir Hirori entstanden. Hirori begibt sich darin an die Grenze zwischen Syrien, der Türkei und dem Irak, um die Bemühungen von Männern und Frauen zu dokumentieren, die jesidische Frauen und Mädchen aus dem syrischen Lager Al-Hawl zu befreien versuchen. Das ist eines der größten Gefangenenlager für Islamisten, die auf ihren Streifzügen durch die Region Jesidinnen entführten und als Sexsklaven hielten und diese mit ins Lager nahmen. Weil sich keine Regierung für das Thema verantwortlich fühlt, werden Angehörige und Aktivist*innen tätig. Der Film besitzt eine berührende Intensität. Der Regisseur lässt den Protagonist*innen ebenfalls den größtmöglichen Raum, dennoch bringt er auch seine Perspektive allein durch die Wahl der Motive hinein, die es erlaubt, gewisse Zusammenhänge besser zu verstehen.

Herausfordernd aus einer ganz anderen Sichtweise ist der Film der italienischen Journalistin Benedetta Argentieri. The Matchmaker wagt das Experiment, das „Gesicht des Bösens“ zu zeigen. Aus dem gleichen Islamistenlager, aus dem die Sabayas (ein Begriff für „Sexsklavinnen“) befreit werden sollen, berichtet Argentieri von einer jungen Frau, die den Dschihadisten angehört. Die junge Engländerin mit indischen Wurzeln aus gutem Hause lebt seit Jahren in diesem Lager von vielen anderen Frauen umgeben. Die Lebensbedingungen sind nicht gut. Gewalt ist im Lager vorhanden, die Versorgung dürftig. Die Frau wartet darauf, dass sie zurück nach Europa kann. Es ist recht mutig, sich auf dieses Terrain zu begehen. Die Menschenrechte gelten für jeden, auch wenn es einem manchmal schwerfällt, das gleiche Maß an Empathie aufzubringen. Darin muss man sich mit diesem Film üben. Ähnlich wie es einem The Return: Life After Isis der Spanierin Alba Sotorra Clua vormacht.


Die zeitversetzte Perspektive und der persönliche Bezug

Die filmische Aufarbeitung bestimmter Themen braucht in der Regel die Möglichkeit eines gewissen Rückblicks. Wenn es um Migration geht, ist es daher selten, dass die betroffenen Generationen selbst in der Erzählung ihrer Situation, ihres Schicksals aktiv werden. Das ist nicht nur auf der filmischen Ebene so, sondern auch auf der literarischen. Als Beispiel für Dokumentarfilme, die von einer zweiten Generation von Migranten oder Migrantinnen entstanden sind, kann Love is Not An Orange als einer der aktuell interessantesten gelten, auch weil er eine Weltregion in den Fokus nimmt, die sonst wenig in diesem Zusammenhang filmisch besprochen wird. 

Otilia Babara erzählt in ihrem Film von der massenhaften Migration moldauischer Frauen in den 1990er Jahren nach Südeuropa. Dort verdienten sie Geld, um ihre armen Familien zu Hause zu unterhalten. Dies bedeutete Abwesenheit und schließlich Entfremdung. Anhand von Archivmaterial, das sie zu einer vermeintlich einheitlichen Geschichte komponiert und mit einem eingesprochenen Kommentar versieht, ist ein unsentimentales Zeitdokument entstanden, das die Essenz der Arbeitsmigration, wie sie weltweit wohl seit der Menschenexistenz besteht, einfängt. Um die Bedeutung und Auswirkungen davon fassen zu können, musste mindestens eine Generation vergehen. 

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Ähnlich verhält es sich mit Liebe, D-Mark und Tod von Cem Kaya. Seine umfassende Archivarbeit und analytische Auseinandersetzung damit bietet einen wohl einzigartigen Blick auf die deutsch-türkische Geschichte. In einem persönlichen Gespräch meinte Kaya, dass die größte Schwierigkeit während der Herstellung des Films die gewesen sei, Archivmaterial zu finden, das die türkischen Einwanderer in ihrer Freizeit und deren Kultur zeige. Dafür habe man sich in der Öffentlichkeit nicht interessiert, sondern nur für ihre politische Bedeutung als Ausländer, Fremde, Arbeiter. 

Genau diese Loslösung von Migrant*innen aus der Wahrnehmung als Objekt macht Kayas Film in erster Linie so großartig. Eindrücklich gelingt das auch dem Hybrid zwischen Fiktion und Dokumentation Europe von Philip Scheffner. Die Protagonistin ist eine Algerierin, die in Frankreich den Asylstatus verliert, weil ihre medizinische Therapie als abgeschlossen gilt und sie deswegen nach Algerien zurückkehren muss. Spielerisch setzt sich der Film mit den Thema Heimat und dem Zustand des Wartens, der gesellschaftlichen Partizipation auseinander. Genau wie Kaya und Babara ist hier ein beträchtlicher Aufwand in Bezug auf die Bildfindung und den Erzählstil unternommen worden. Bei allen drei Filmen hat das zu einem anderen Resultat geführt, aber alle können auf ihre Weise überzeugen. 

 

Der anklagende, gesellschaftsrelevante Blick

Im Vergleich dazu gibt es aber auch auf Anhieb weniger gelungene Beispiele wie Seefeuer von Gianfranco Rosi, der 2016 den Goldenen Bären bei der Berlinale gewann. Schauplatz ist darin die sizilianische Insel Lampedusa, wo traditionell viele Flüchtlingsboote aus Afrika stranden. Von dort werden die Ankömmlinge oft auf den Rest von Europa verteilt, einige leben dort aber in lagerartigen Verhältnissen. Der Film von Rosi versucht durch seine Zweiteilung die Situation der Flüchtlinge mit dem Alltag der Einheimischen von Lampedusa in Verbindung zu bringen. Das wirkt an verschiedenen Stellen sehr bemüht, sehr steril und auch manipulativ.

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Auch Eldorado von Markus Imhoof bemüht sich aufzuzeigen, welche Wirkung, welche Konsequenzen die Migration für unser Zusammenleben, unsere Gesellschaft hat. Und tatsächlich greift der Film einige Aspekte auf, die unbedingt näher ins Bewusstsein eines breiteren Publikums gerückt werden müssen. Doch auch dieses Werk zerfällt in seine Einzelteile, erst recht da der Regisseur einen Bezug zu seiner eigenen Erfahrung sucht und dies nicht zwingend wirkt. 

Bemüht, aber in seinem experimentellen Charakter immerhin bemerkenswert, ist Das neue Evangelium von Milo Rau, in dem der Film- und Theaterregisseur die Passion Christi durch Schwarze Asylsuchende in Süditalien nachspielen lässt. Der moralisierende, symbolische Aspekt darin ist ziemlich aufdringlich. In eine ähnliche Richtung geht A Black Jesus von Luca Lucchesi, dem es allerdings besser gelingt, Empathie für seine Protagonisten zu erzeugen, ebenfalls in Süditalien (Sizilien, um genau zu sein) lebende Afrikaner, die sich bemühen, Teil der örtlichen Bräuche und Gesellschaft zu werden. 

Zwei weniger bekannte, aber in ihrer Wirkung bedeutende Werke sind Siamo Italiani von Alexander J. Seiler, der bereits 1964 die damals erst ansetzende italienische Migration in der Schweiz verhandelt, und Neuland von Anna Thommen, der ähnlich wie Herr Bachmann und seine Klasse von Maria Speth junge Menschen mit Migrationshintergrund in ihrem Schulalltag beobachtet.

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