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Keine Dämonen, keine Wunder – "Dheepan" und Brisanz als Qualitätsmerkmal

Ein Beitrag von Lucas Barwenczik

Es ist eine Geschichte irgendwo zwischen aktueller Zeitungsschlagzeile und paranoider Phantasie: Jacques Audiards Dämonen und Wunder – Dheepan erzählt von einem Flüchtling, welcher der Gewalt seiner Heimat auch im vermeintlich sicheren Europa nicht entkommen kann.

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Filmstill aus "Dämonen und Wunder – Dheepan" von Jacques Audiard
Filmstill aus "Dämonen und Wunder – Dheepan" von Jacques Audiard

Angesichts der Terroranschläge vom 13. November 2015 wirken viele der Filmbilder von Straßenschlachten in Paris geradezu prophetisch. Kehrt man den Blick um, bekommen die Attentate die Aura eines morbiden publicity stunts, der auf den Film zurückverweist und seine Brisanz unterstreicht. Bei den Filmfestspielen von Cannes im Mai wurde „Dheepan“ mit der Goldenen Palme ausgezeichnet. In einem Jahr, in dem die Diskussion um Migration Europa beherrscht, hat der Beitrag den wohl wichtigsten europäischen Filmkunstpreis gewonnen, in dem Fakt und Fiktion am deutlichsten zu konvergieren scheinen.

Die Zeit bezeichnete den Film sogar als „Spiegel der Realität“, der Schweizer Tages-Anzeiger verkündete in Anspielung an Ereignisse aus jüngster Vergangenheit: „Je suis Dheepan“. In der Süddeutschen Zeitung hieß es: „Dieser Film zeigt […] einen aktuellen politischen Brandherd, den kaum ein Geschichtsbuch so detailgetreu und authentisch darstellen könnte.“

Alles passte perfekt, vielleicht sogar ein bisschen zu perfekt: In der Auszeichnung (und dem allgemeinen Zuspruch für Audiards Drama-Thriller-Hybrid) schwang ein merkwürdiger Automatismus mit. Er lautet: Was richtig und wichtig erscheint, wird dafür auch belohnt. Es ist der Ausdruck einer immer weiter wachsenden Liebe zu Mimesis, Mimikry und zum Bedeutungsgewinn aus gewichtigen Gegenwartsthemen im Kino. Ob dabei wirklich eine Annäherung an politische und soziale Lebenswirklichkeit stattfindet und ob das die Ausdruckskraft des düsteren Sozialtableaus nun mindert oder stärkt, ist gar nicht so einfach zu beantworten.

Unmittelbar nach der Vergabe begann die Diskussion über Sinn oder Unsinn der Juryentscheidung, im Tagesspiegel etwa sah Jan Schulz-Ojala darin einen Triumph des „politisch Korrekten“ über das ästhetische Wagnis. Auf critic.de schrieb Frédéric Jaeger: „[Es] steht zu befürchten, dass Cannes etwas einseitig den Anschluss an die Aktualität auf einer inhaltlichen Ebene sucht und ihn in Werken zu finden glaubt, denen ein solcher Impetus an der Stirn abzulesen ist.“

Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass es natürlich bei weitem nicht das erste Mal war, dass im Wettbewerb von Cannes Entscheidungen getroffen wurden, die zumindest den Anschein erweckten, dort gelte das Primat der Politik. Schließlich stellte das Festival selbst eine politische Entscheidung dar: Am Anfang des größten Kulturanlasses der Welt steht ausgerechnet Walt Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge. Nachdem Benito Mussolini und Joseph Goebbels den Sieg des amerikanischen Beitrags beim Filmfestival in Venedig 1938 unterbunden, beschloss man, einen eigenen Wettbewerb „im demokratischen Geist“ auszurufen. Das erste Festival musste jedoch abgebrochen werden – wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs.

Im Rahmen des zarten Neubeginns des Filmfestes im Jahre 1946 wurde die als „Wettbewerb der Nationen“ ausgerufene Veranstaltung alsbald zu einem Nebenschauplatz des Kalten Krieges. Technische Probleme während des Eröffnungsfilms – den Dokumentarfilm Berlin von Juli Raisman und Yelizaveta Svilova – wertete man als Affront gegen die rote Armee, die sowjetrussische Delegation konnte gerade noch an der Abreise gehindert werden. Politik war immer ein Teil der Festival-DNA, wo nationale und institutionelle Interessen genauso aufeinanderprallen wie ästhetische Ideale. Eine politique des auteurs und realpolitische Erwägungen bilden Spannungsfelder so wie es Kunst und Kommerz tun. Die Liste der Filme, deren Ehrung zum Politikum wurde, ist lang und wohl auch nahezu deckungsgleich mit der Liste der Sieger.

Im Jahr 1947 wurde Edward Dmytryks Im Kreuzfeuer noch mit einem Sonderpreis als „bester Sozialfilm“ ausgezeichnet – in den nachfolgenden Jahren wurde dieser nicht mehr vergeben. Am deutlichsten kehrte dieser offen zur Schau gestellte gesellschaftspolitische Anspruch in den Jahren nach 1968 nach Cannes zurück, in denen sich das krisengeplagte Hollywood auf der Suche nach neuen Ideen am europäischen Autorenkino orientierte.

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Ausschnitt aus Im Kreuzfeuer von Edward Dmytryk

 

Ein prominentes und kontroverses Beispiel für die Wechselwirkung Leinwand/Welt aus diesem Jahrtausend stellt Michael Moores Anti-Bush-Polemik Fahrenheit 9/11 da, der 2004 die Palme d’Or zugesprochen wurde, als die Hauptoffensive des zweiten Irakkrieges noch nicht einmal ein Jahr zurücklag. Die damalige Jury unter Vorsitz von Quentin Tarantino wurde hart für die Entscheidung kritisiert, der jedoch wies alle Vorwürfe scharf von sich: „Ich wusste, dass diese politische Scheiße aufgebracht werden würde. Wir waren uns alle einig, dass Fahrenheit 9/11 der beste Film des Wettbewerbs war.“ Festivalpräsident Gilles Jacob widersprach und entschuldigte sich im Folgejahr für die Auszeichnung von Moores Film, nannte ihn ein Pamphlet und versprach, dass diese Art von Entscheidung eine Ausnahme bleiben würde. (Schon im Jahr zuvor war auf ähnliche Weise über Gus van Sants Interpretation des Amoklaufs an der Columbine High School Elephant diskutiert worden – auch wenn den Film und das Ereignis vier Jahre trennten, verlor die Grundthematik leider nie an zeitgenössischen Entsprechungen.)

Susan Vahabzadeh vermutete damals: „[…]irgendwo mag sich ein leises Stimmchen rühren, das fragt, was aus diesem Film werden soll, wenn der Wahlkampf vorüber ist. Palmen sind, manchmal zumindest, für die Ewigkeit gemacht.“

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Trailer zu Dämonen und Wunder – Dheepan

 

Auf einem anderen Filmfestival spielte sich eine bezeichnende Szene ab: Zur Deutschlandpremiere des Films beim Filmfest Hamburg hatte man Hauptdarsteller Antonythasan Jesuthasan eingeladen, im Anschluss an die Vorführung sollte der Schauspieler und Autor aus Sri Lanka Rede und Antwort stehen. Für das Gespräch war eine Übersetzerin anwesend, doch so richtig wollte die Kommunikation nicht glücken; ein wirklicher Austausch scheiterte an der Sprachbarriere. Jesuthasan wurde auf den Umstand angesprochen, der wohl für viele den Film gerade so faszinierend macht: Er hat selbst eine Flüchtlingsbiographie aufzuweisen. Nachdem er auf Seiten der paramilitärischen Organisation der Liberation Tigers of Tamil Eelam im Bürgerkrieg in Sri Lanka gekämpft hatte, floh er im Jahr 1990 nach Thailand und erreichte drei Jahre später seine heutige Heimat Frankreich. Quasi genauso wie seine Figur. (In Interviews erklärt er, mit der Figur im Film teile er etwa fünfzig Prozent der Geschichte.)

Doch auf die Frage nach den realen Bezügen des Films reagierte er schnell sehr defensiv und erwiderte, auf der Leinwand wäre natürlich ein Figur zu sehen, er spiele eine Rolle, sonst nichts – als müsste man Moderator und Publikum erst erklären, dass es sich nicht um einen Dokumentarfilm handelt oder sogar um ein Fenster, durch das man direkt in die französischen Banlieues blicken kann.

Ganz Unrecht hat er damit sicherlich nicht. Nicht nur Dämonen und Wunder – Dheepan beweist die Popularität eines Kinos, das sich bemüht authentisch gibt und sich geradezu obsessiv an der Welt außerhalb der Leinwand bedient. Man sieht es in Hollywood, wo Wirklichkeit heute oft ein Wirtschaftsfaktor ist und Schauspieler vor allem dann gelobt werden, wenn sie besonders präzise Imitationen bekannter Persönlichkeiten bieten. Seit Jahren verwandeln Darsteller für jede ihrer Rollen die gesamte Physik, um möglichst authentisch zu wirken. Christian Bale etwa ist fast kein Schauspieler mehr, sondern schon ein kafkaesker Hungerkünstler, der vor allem die Transformationen seines Körpers darbietet.

Der Fall von Antonythasan Jesuthasan ist nur die konsequente Weiterführung dieses Ansatzes, quasi Ultra-Method-Acting. Schlussendlich muss sich sogar die Biographie  – obwohl sie zuerst da war – der Rolle unterordnen. Was als Forderung nach Diversität und Teilhabe noch absolut richtig und wichtig ist, bekommt hier eine absurde Qualität. Denn zu Ende gedacht bedeutet der übersteigerte Wunsch nach Echtheit, dass eigentlich nur die Person für eine Rolle geeignet ist, die ohnehin schon ihr Leben führt.

Synecdoche, New York
Filmstill aus Synecdoche, New York von Charlie Kaufman; Copyright: Delta Music & Entertainment GmbH & Co. KG

 

Das Kino wird dann zu Synecdoche, New York: In Charlie Kaufmans Drama versucht der Theaterregisseur Caden Cotard „ein neues, großes und wahres Theaterstück“ zu kreieren. Dabei schafft er jedoch nur ein immer detaillierteres Abbild der Wirklichkeit, ohne jemals zum Kern der Erzählung durchzudringen. Die Fiktion hastet verzweifelt und hilflos der Realität nach. Audiards Dämonen und Wunder – Dheepan wirkt heute auf perverse Art und Weise schon wieder überholt, wie ein blasses Nachklingen des Schreckens der tatsächlichen Ereignisse.

Das Kino sollte kein gewaltiges Imitation Game werden, in dem die Produktionsbedingungen und die äußeren Umstände langsam über den fertigen Film hinauszuwachsen drohen. Im Endeffekt sind solche boulevardesken Geschichten nette Anekdoten, mehr nicht. Emotionale Wahrheit, ekstatische gar, wird die kalte, graue Faktizität immer übertreffen. Oder um es mit George Bernard Shaw zu sagen: „The real world does not exist […] men and women are made by their own fancies in the image of the imaginary creatures in my youthful fictions, only much stupider.“

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