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Der Tod und das Kino: Wenn Familien auf der Leinwand trauern

Ein Beitrag von Markus Fiedler

Jede*r trauert auf seine/ihre Weise — auch im Kino findet der Abschied von geliebten Familienmitgliedern auf ganz unterschiedliche Weisen statt. Eine Bestandsaufnahme zum Start von „Tótem“.

Meinungen
Coco / Tótem / Sieben Minuten nach Mitternacht
Coco / Tótem / Sieben Minuten nach Mitternacht

Mit ihrem Film „Tótem“ sorgte die mexikanische Regisseurin und Drehbuchautorin Lila Avilés nicht nur auf der Berlinale für Begeisterung, sondern konnte auch die Kritiker in aller Welt überzeugen. Die Geschichte eines siebenjährigen Mädchens, das den letzten Geburtstag ihres krebskranken Vaters miterlebt und Abschied nehmen muss, lässt nicht kalt. Wie kann dieser Abschied im Kino sonst aussehen? Eine Bestandsaufnahme.

Wie und wann verstehen wir, dass wir eine geliebte Person verlieren werden oder bereits verloren haben? Lila Avilés lässt ein Mädchen seine Gefühle im Umgang mit dem Unausweichlichen erforschen und trifft mit ihrem sensiblen Drama Tótem den richtigen Ton, fernab von jedwedem Pathos oder gar Kitsch. Denn Sol geht mit ihrer Trauer um wie ein Kind, und das enthält für ein erwachsenes Publikum eine Menge Botschaften. Doch das Kino hat auch andere Filme über Trauer zu bieten.

 

Darf der Tod auch lustig sein?

Wir bleiben in Mexiko und finden in Coco – Lebendiger als das Leben erneut einen kindlichen Protagonisten vor. Der Pixar-Film aus dem Jahr 2018 wäre vom Mutterkonzern Disney kaum vorstellbar, doch Pixar war schon immer der Mutigere von beiden, wenn es Themen ging, die vermeintlich schwierig für ein jüngeres Publikum sein könnten. Ohne diesen Mut hätte es wohl auch den wunderbaren Soul sicher nie gegeben. Coco beginnt auf einem Friedhof – und ist doch sofort so lebendig, wie man es sich bei einem Film nur wünschen kann.

Coco (c) Disney

 

Die Regisseure Lee Unkrich und Adrian Molina nutzen den Tag der Toten, einen mexikanischen Feiertag, an dem der Verstorbenen gedacht wird, zu einer turbulenten Reise des kleinen Miguel ins Totenreich. Dort trifft er nicht nur auf seinen Urgroßvater, der von der Familie wegen vermeintlicher Fehler totgeschwiegen wird und dafür im Jenseits bitter leiden muss, sondern lernt auch den Wert von Verlust und Erinnerung kennen. Und das Publikum weltweit erfuhr, dass man der Toten nicht unbedingt in Schwarz gedenken muss. Denn der knallbunte Tag der Toten mit den typisch mexikanischen Blumenelementen überall ist eine Augenweide und lenkt den Blick auf einen anderen Umgang mit dem Tod.

Traditioneller ist da Sieben verdammt lange Tage. Hier stellt Regisseur Shawn Levy die Zurückgebliebenen in den Fokus und beleuchtet, was es heißt, jemanden zu verlieren. Die Altman-Sippe hat den Vater verloren. Und sein letzter Wunsch war es, dass eine siebentägige jüdische Totenwache gehalten wird – von seinen Kindern. Das bringt die Geschwister nicht nur nach längerer Zeit wieder für eine Weile unter ein Dach, sondern reißt auch alte Wunden wieder auf. Heilt aber auch neue. So hat Judd (Jason Bateman) seine Frau im Bett erwischt – mit seinem Chef! Und nun verkündet sie ihm – mitten in der Trauer –, dass sie schwanger sei.

Sieben verdammt lange Tage (c) Warner Bros.

 

Seine Schwester Wendy (Tina Fey) muss ebenfalls Traumata abarbeiten, denen sie sich nie gestellt hat. Und schließlich hat auch Mutter Hilary (Jane Fonda) noch die eine oder andere Überraschung auf Lager. Levy zeigt hier die Familie nicht nur als Halt in der Trauer über den gemeinsamen Verlust, sondern auch als Katalysator für das Angehen von Problemen, die schon lange im Verborgenen schwelen. Und die während der kontemplativen Zeit des Abschiednehmens fast wütend an die Oberfläche drängen. Er zeigt aber auch, dass ein ernstes Thema nicht immer ohne Humor auskommen muss, denn seine gelungene Dramedy traut sich, Gags und Situationskomik einzubauen.

Der deutlich ernstere Film Im August in Osage County stellt das Sterben an sich in den Mittelpunkt, denn der Tod des Vaters geschieht hier erst im Lauf der Handlung. Doch die Folgen sind ähnlich. Lang schwelende Konflikte innerhalb der Familie Weston brechen bei der Beerdigungsfeier auf und sorgen für Spannungen. Auch hier sorgt der Tod für ein Gewitter, allerdings ist es kein reinigendes, sondern ein zerstörendes. Im niederschmetternden Finale bleibt die krebskranke Mutter (Meryl Streep) allein zurück, alle Kinder haben den für sie so toxischen Ort verlassen, sogar Barbara (Julia Roberts), der Liebling der Mutter. Regisseur John Wells nutzt das Sterben als Aufhänger für die Destruktion der nur angeblich heilen amerikanischen Familie. Hier ist der Tod gleichbedeutend mit dem Verlust einer Klammer, die etwas zusammenhält, das längst hätte getrennt werden müssen. Somit ist Im August in Osage County so etwas wie die Antithese zu Sieben verdammt lange Tage, die zeigt, dass nicht alles durch das Sterben und die Trauer wieder zusammenfindet.

 

Wenn die Trauer nicht alles ist

Einen anderen Aspekt des Todes nutzt The Descendants – Familie und andere Angelegenheiten für seine Geschichte. Als seiner Frau nach einem Motorradunfall und langem Koma nun die lebenserhaltenden Geräte abgeschaltet werden, muss sich Matt King (George Clooney) nicht nur mit dem nahen Verlust auseinandersetzen, sondern auch mit seinen Kindern. Vor allem die 17-jährige Alexandra (Shailene Woodley) attackiert Matt in seiner neuen Rolle als alleinerziehender Vater hart, verrät ihm sogar von einer Affäre der Mutter, die Matt nie bemerkt hatte, weil er zu beschäftigt mit anderen Dingen war.

The Descendants (c) Twentieth Century Fox

 

Erst in der gemeinsamen Ablehnung der Eltern ihrer Frau und Mutter finden die beiden langsam wieder zueinander. Matt kann sich sogar dazu durchringen, den Liebhaber seiner Frau aufzusuchen und ihm zu raten, sich von seiner geliebten zu verabschieden, da sie bald sterben werde. Alexander Paynes Film nutzt ebenfalls den nahenden Tod als Auslöser für ein emotionales Großreinemachen – und geht die Sache doch anders an als die vorher genannten Filme. Wie schon Tolstoi erkannte, sind „alle glücklichen Familien einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist jedoch auf ihre eigene Weise unglücklich“. Die Altmans und die Westons würden das sicher bestätigen. Doch Filme über Trauer und Verlust kommen nicht nur aus Hollywood.

Denn auch andere Kulturen haben ihre Rituale, wenn es um Tod und Sterben geht. Das zeigt die wunderbare Indie-Dramödie The Farewell ganz ausgezeichnet. Regisseurin Lulu Wang mixt einen Kultur-Clash mit dem Abschied von einem geliebten Menschen – und fördert erstaunlich witzige und doch tragische Momente zutage. Billie (Awkwafina) ist zwar vor vielen Jahren mit ihren Eltern aus China in die USA gekommen, fühlt sich aber längst als Teil der westlichen Welt. Als sie die Nachricht erhält, dass ihre geliebte Großmutter Lungenkrebs im Endstadium hat, reist sie aber nach China, um sich von ihr zu verabschieden. Das Problem ist nur, dass keiner in der Familie bisher den Mut hatte, der Sterbenden die Diagnose mitzuteilen. Nai Nai ist also so fröhlich und lebensfroh wie immer, was die Familie in nur noch größere Trauer stürzt – und einige absurde Situationen. Denn alle fürchten, dass Billie ihren Mund nicht wird halten können. Die Schlusspointe setzt dann dem Ganzen die Krone auf. Wang gelingt hier nicht nur ein wundervolles Portrait einer Familie, die über die ganze Welt verstreut dennoch zusammenhält, sondern zeigt auch sehenswert auf, wie dicht Tragik und Komik beieinanderliegen, selbst wenn es ums Sterben geht.

 

Wut und Akzeptanz

Wie nah Schönheit und Schmerz im Film beieinander liegen können, wenn es um das Sterben geht, zeigte der spanische Regisseur J.A. Bayona im Jahr 2016, als er mit Sieben Minuten nach Mitternacht den gleichnamigen Roman von Patrick Ness verfilmte. Der Film erzählt vom zwölfjährigen Connor (Lewis MacDougall), dessen Mutter (Felicity Jones) schon lange schwerkrank ist – sie kämpft mit dem Krebs. Seine abweisende Großmutter (Sigourney Weaver) ist dem Jungen auch keine Hilfe, doch eines Nachts lernt Connor ein großes, aber offenbar nicht unfreundliches Monster kennen, das ihm ein Angebot macht. Das Monster werde dem Jungen drei Geschichten erzählen, danach müsse Connor dem Monster als Gegenleistung den Albtraum verraten, der ihn jede Nacht quält. Connor willigt ein – und lernt die schlimmste Lektion seines Lebens.

Sieben Minuten nach Mitternacht (c) Twentieth Century Fox

 

Bayonas Film ist einerseits voller wunderschöner Bilder, so sind die drei Geschichten in unterschiedlichen Stilen animiert und überaus stimmungsvoll. Das tragische Schicksal Connors hingegen trifft das Publikum mehrfach mit voller Wucht und so hart, dass im Kino nicht selten Tränen flossen. Noch immer ist der Film eine der berührendsten Auseinandersetzungen eines Kindes mit Sterben und Tod, die sich im Mainstream-Kino finden lässt. Wenn man dann noch bedenkt, dass Ness die Idee für den Roman von einer Schriftstellerin hatte, die ihn aufgrund einer Krebserkrankung, der sie erlag, nicht mehr selbst schreiben konnte, berührt Sieben Minuten nach Mitternacht noch ein wenig mehr.

Tod und Sterben und der Umgang damit sind neben der Liebe die einzige universelln Themen der Menschheit. Das eine strebt jeder an, das andere ist jedem in die Wiege gelegt. Und so ist es kein Wunder, dass immer wieder gute, großartige und grandiose Filme zum Thema Tod und Sterben erscheinen. Tótem ist so einer – und es wird garantiert nicht der letzte sein. 

Meinungen

Johanna Malchow · 10.11.2023

Ich wünsche mir, dass angegeben wird, wann die Filme auf Arte gesendet werden. Ich sehe sie mir lieber am Fernseher an.