Vital

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Nur über ihre Leiche - oder: Die Reise ins Ich

Zunächst glaubt man sich beinahe in einem Experimentalfilm oder einem Videoclip einer Industrialband zu befinden. Oder eben in einem der früheren Werke des Zauberers Shinya Tsukamoto: Nach einem Blick auf abstrakte organische Formen, die von schwebender Ambient-Musik und Glockengeläut begleitet werden, wechselt sowohl auf der Bild- wie auch auf der Tonebene die Erzählhaltung: Aufnahmen von qualmenden Fabrikschornsteinen überlagern und verschieben sich, vielfach gedoppelt sich vor einem bleigrauen Himmel, ineinander, untermalt von einer konzertierten Kakophonie von Geräuschen, die immer mehr einen Höhepunkt entgegensteuert, um dann sanft auszulaufen und in eine kreisförmigen Kamerabewegung hin zum Kopf eines Mannes zu enden, der mit geschlossenen Augen auf einem Bett liegt.
Der junge Mann ist der Medizinstudent Hiroshi (Tadanobu Asano), der gerade nach einem schweren Autounfall aus dem Koma erwacht ist und feststellen muss, dass er sich an kaum mehr etwas erinnern kann – schon gar nicht an die Umstände des Unfalls, bei dem seine Freundin Ryôko ums Leben kam. Sichtlich um Normalität bemüht nimmt Hiroshi, unterstützt von seinen verständnisvollen Eltern, das Studium wieder auf, das er eigentlich vor dem Unfall abbrechen wollte. Wie der Zufall es will, muss er sich in seinem Anatomiekurs an dem Leichnam einer jungen Frau üben, der sich als die sterblichen Überreste von Ryôko entpuppt. Und mit jedem Schnitt, den Hiroshi setzt, mit jeder neuen Gewebeschicht, die er herauslöst und präpariert, kehren die manchmal recht düsteren Erinnerungen an Ryôko zurück. Und dann ist da noch die geheimnisvolle Studentin Ikumi (Kiki), die wie er den anderen Kommilitonen haushoch überlegen ist und die sich auffällig für ihn interessiert. Doch Hiroshi ist immer noch auf der Suche nach seinem Selbst, das ihm durch den Unfall und den Verlust seiner Freundin abhanden gekommen ist.

Ohne Zweifel markiert Vital einen Wendepunkt im Schaffen Shinya Tsukamotos, der lange Zeit vor allem für seine Cyperpunk/Cyborg-Trilogie Tetsuo (1989, 1992 und 2009) und die frappierende Körperlichkeit seines Films Tokyo Fist (1995) wahrgenommen wurde. Zwar stehen auch in Vital die Körper (die lebenden und die toten) im Mittelpunkt des Interesses. Zugleich dringt Tsukamoto mit seinen nach wie vor rasiermesserscharfen und atemberaubend schönen Bildern, seinen verknappten Dialogen und experimentellen Sequenzen voller Düsternis und Anmut in vor allem psychische und emotionale Dimensionen vor, die man bislang weniger von ihm kannte. Hier geht es nicht mehr um Körper und deren Modifikationen, sondern das Gedächtnis und um die Seele des Menschen, um dessen Innerste, also um all das, was unsere Menschlichkeit, unsere Fähigkeit zu Liebe und Empathie ausmacht. Eigentlich ist die Geschichte um eine Rückkehr ins Leben und um eine Todessehnsucht, die sich zu einer Besessenheit, zu einer Krankheit auswächst, recht einfach gestrickt und bietet dramaturgisch wenig Überraschendes, doch es ist vor allem die ästhetische Brillanz, die ausgesuchten Interieurs und die formale Raffinesse, die begeistert und fasziniert und die über manche nicht so zwingenden Szenen hinweghilft. Weil man spürt, wie zutiefst menschlich dieser Film ist und welche tiefen Emotionen er eindrucksvoll zeigt.

Vital ist der endgültige Beweis dafür, dass Tsukamoto auch jenseits seiner vielfach erprobten Erfolgsformel des cyberpunk und body horror einer der wichtigsten und kreativsten zeitgenössischen japanischen Filmemacher ist. Mit Vital hat er endgültig den (sowieso nur imaginierten) Graben zwischen dem experimentellen Underground und dem Arthouse-Kino überschritten. Doch es ist, wie seine folgenden Filme bewiesen haben, keine Einbahnstraße, die er beschritten hat, sondern lediglich eine Erweiterung der eh schon vorhandenen Fähigkeiten und Interessen. Und vielleicht ist dieser Film gerade deshalb ein geeigneter Einsteig in das bizarre Universum des Shinya Tsukamoto.

Vital

Zunächst glaubt man sich beinahe in einem Experimentalfilm oder einem Videoclip einer Industrialband zu befinden. Oder eben in einem der früheren Werke des Zauberers Shinya Tsukamoto:
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