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Seit 1967 und seinem „Titicut Follies“ zeigt und durchdringt Frederick Wiseman mit seinen Filmen amerikanische Institutionen. Dabei spiegeln sich auch immer wieder gesellschaftliche und politische Realitäten der jeweiligen Zeit in der Betrachtung der Arbeitsprozesse hinter und im öffentlichen Bild der jeweiligen Organisation.

Ex Libris - Die Public Library von New York (2017)

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Mehr als eine Bibliothek

Seit 1967 und seinem Titicut Follies zeigt und durchdringt Frederick Wiseman mit seinen Filmen amerikanische Institutionen. Dabei spiegeln sich auch immer wieder gesellschaftliche und politische Realitäten der jeweiligen Zeit in der Betrachtung der Arbeitsprozesse hinter und im öffentlichen Bild der jeweiligen Organisation.

In seinem 2015 gedrehten und während der US-Präsidentschaftswahl 2016 geschnittenen Ex Libris: New York Public Library versucht der inzwischen 87-jährige Filmemacher nicht nur deshalb mehr als deutlich – dennoch nicht ohne Ambivalenz – eine Utopie des Zusammenseins unterschiedlicher Bildungsschichten und Ethnizitäten zu zelebrieren. Das Public-Library-System ist mehr als eine Bibliothek. Es ist ein möglicher Widerstand pädagogischer und kultureller Notwendigkeit. In einer überraschend berührenden Weise macht diese Grundprämisse das institutionelle Portrait zu einem in seiner Hoffnung bewegenden Film.

Dabei geht Wiseman äußerst routiniert vor. Wer seine Filme kennt, weiß, was zu erwarten ist. Die Kamera ist am Prozess interessiert und am beständigen Wechsel dessen, was man als Nutzer und Besucher in den vielen Zweigen der Public Library erfahren kann, und dem, was sich hinter den Kulissen abspielt. Oftmals lauscht man dabei Vorträgen oder internen Gesprächen. Es ist erstaunlich und hat sehr wenig mit „beobachtenden Dokumentationen“ zu tun, die viele zu Unrecht mit Wiseman verbinden, wie die Menschen in seinen Filmen sprechen. Es sind Vorträge geprägt von Vehemenz, Leidenschaft und Wissen. Wie oft im Werk von Wiseman entsteht faszinierende Bewegung, obwohl man letztlich nur sitzende Menschen beim Diskutieren betrachtet. Im Fall von Ex Libris betrifft das nicht nur die Welt der großen Bücher, wobei zum Beispiel mit Gabriel García Márquez und Vladimir Nabokov bedeutende Schriftsteller vorkommen, sondern auch und vor allem pädagogische Veranstaltungen, teaminterne Diskussionen über Digitalisierung oder den Umgang mit Obdachlosen im Gebäude, Tanzabende, Treffen von schwarzen Bürgern (über das Schomburg Center for Research in Black Culture in Harlem), Prominentenabende und so weiter. Wiseman zeichnet in den Stimmen jener, die für ihre jeweiligen Zweige einstehen, ein Diversitäts-Mosaik von enormer Dringlichkeit. Die Menschen reden nie direkt mit der Kamera, wobei ihre Anwesenheit entscheidend scheint für ihre Sitzordnung und ihr Verhalten. Sie diskutieren untereinander und oftmals wählt Wiseman genau jene Momente in der Montage, in denen die Präsenz des Films hinter den diskutierten Themen verschwindet. Dazwischen gibt es einige etwas lieblose Stimmungsbilder und Aufnahmen von New York, die betonen, dass die Public Library wie ein verbindendes Netz über die ganze Stadt gespannt ist.
Wenn man an einen jüngeren Film von Wiseman wie National Gallery denkt, wird offensichtlich, dass er schon subtiler mit seinen Subplots gearbeitet hat. Im Endeffekt gibt es drei Modi, in denen man sich dem Film näheren kann. Der erste ist eine Betrachtung der Institution, wobei der Film und auch die Menschen, die darin vorkommen, immer wieder betonen, dass es sich eben nicht nur um eine Bibliothek handelt, in der es Bücher gibt. Das Bilden einer Gemeinschaft, der pädagogische Auftrag und die Kulturvermittlung stehen genauso im Zentrum. Zudem sind in die Betrachtung der Institution auch Gedanken zur Digitalisierung eingeflochten. Die zweite Möglichkeit findet sich in den verhandelten Themen selbst. Es wäre zwar viel zu viel, sich in jedem der gezeigten Gespräche zu engagieren, aber prinzipiell gibt einem Ex Libris die Möglichkeit, an der Kulturvermittlung teilzunehmen. Relevanter scheint jedoch die dritte Möglichkeit der Annäherung. Diese liegt eben von den ersten Bildern und Gesprächen an sehr offen: Es geht um das, was Wiseman hinter seinen Bildern erzählt, also mehr oder weniger um die Auswahl seiner Ausschnitte. Betont wird durchgehend, dass die Public Library ein demokratischer Ort für die Menschen sein will und sein kann.
Ein paar Mal bricht der Film mit diesem Bild. Etwa als ein Ehrendinner vorbereitet wird oder als man schwarze Mitarbeiter bei der Fließbandarbeit mit Büchern sieht. Es zeigt sich in diesen Brüchen, dass das Bemühen um Gleichberechtigung und Erziehung für alle nicht immer gehalten werden will oder kann. Es ist wichtig, dass es auch diese Bilder gibt, sonst käme man fast in Versuchung zu glauben, dass Ex Libris ein Propagandafilm ist. Eine Propaganda für das menschliche Zusammensein. So zeichnet sich letztlich ein komplexeres Bild der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten dieses ideellen Bestrebens. Es ist eine Antwort auf die zeitgenössische Politik der USA. Aber eigentlich sollte es eine Antwort sein, die immer und überall gültig ist.

Ex Libris - Die Public Library von New York (2017)

Seit 1967 und seinem „Titicut Follies“ zeigt und durchdringt Frederick Wiseman mit seinen Filmen amerikanische Institutionen. Dabei spiegeln sich auch immer wieder gesellschaftliche und politische Realitäten der jeweiligen Zeit in der Betrachtung der Arbeitsprozesse hinter und im öffentlichen Bild der jeweiligen Organisation.

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