Achterbahn

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Das rasante Auf und Ab des Norbert Witte

Zu Beginn und am Ende des Films sehen wir den Mann in einer Achterbahn, bei der man die Geschwindigkeit lediglich erahnen kann. Starr auf den Wagen montiert erfasst sie das Gesicht Norbert Wittes, der trotz der Rasanz ganz entspannt, vielleicht auch resigniert wirkt und beinahe zu träumen scheint. Hinter ihm in der Unschärfe verschwimmen die bunten Lichter des Rummelplatzes zu einem diffusen Meer aus Dunkelheit und Farben, begleitet von Beiruts sehnsuchtvoll melancholischem Song „Elephant Gun“.
Die Geschichte Norbert Wittes, die der Regisseur, Autor und Kameramann Peter Dörfler in seinem Film Achterbahn erzählt, hat vor allem in Berlin für mächtig viel Wirbel gesorgt. Der Schausteller aus Leidenschaft, dessen Vater neben Fahrgeschäften auch Striptease-Clubs betrieb, galt in den Neunzigern als Berlins ungekrönter Rummelkönig, der aus dem ehemaligen VEB Kulturpark „Plänterwald“ den größten Jahrmarkt des wiedervereinigten Deutschlands machte. Ein gewagter Plan, der auch einige Zeit lang gut ging – bis sich herausstellte, dass Witte sich gnadenlos verhoben hatte. Im Dezember 2001 meldete der „Spreepark“ Insolvenz an. Und bereits einen Monat später zog Witte mit seiner Familie und sechs Fahrgeschäften in Containern nach Peru um – was ihm von vielen Seiten als Flucht vor den Gläubigern ausgelegt wurde. Doch auch in Südamerika konnte er nicht so recht Fuß fassen, 2003 legte er auch im Andenstaat eine Pleite hin und weiß sich nach mehreren Herzinfarkten nicht mehr anders zu helfen, als sich auf einen Drogenschmuggel einzulassen, der ihn aus seiner finanziellen Misere befreien soll.

Der Deal geht schief, sein Sohn Marcel Witte, der von den Geschäften seines Vaters nichts wusste, wird in Peru zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt und lebt dort unter unglaublichen Umständen. Sein Vater kommt glimpflicher davon, er wird im Jahre 2004 zu sieben Jahre Haft verurteilt, kommt aber nach 4 Jahren wieder frei.

Es ist ein Leichtes, Witte aufgrund der reinen Faktenlage als Betrüger und Verbrecher abzustempeln. Doch wer diesem Mann auf die gleiche Weise wie Peter Dörfler begegnet, wird sich schwer damit tun, dieses Urteil ohne weiteres aufrecht zu erhalten. Sicherlich hat Witte viele Fehler gemacht und damit viele Menschen verletzt und ihnen geschadet. Daran lässt auch der Film keinerlei Zweifel. Doch zugleich erscheint uns Witte auch als ein Träumer, ein großes Kind, das stets volles Risiko ging und dabei immer wieder tief fiel. Das Erstaunliche an ihm ist vor allem, dass er immer wieder aufstand und weitermachte – ob nach dem schrecklichen Unfall auf dem Hummelfest in Hamburg im Jahre 1981, bei dem das Skylab-Fahrgeschäft in seinem Besitz sieben Menschen tötete. Selbst nach seinem Gefängnisaufenthalt, der Scheidung von seiner Frau Pia, die vieles an seinen Berichten und Erzählungen innerhalb des Films relativiert und die im Nachhinein als die eigentlich Starke im Leben des Machers erscheint, versucht Witte heute wieder an die Zukunft seiner Kinder zu denken – er plant schon wieder das nächste Projekt.

Das Draufgängerische jedenfalls scheint Witte vererbt worden zu sein. Otto Witte, ein Vorfahr des Schaustellers hatte sich angeblich in den Wirren des Ersten Weltkrieges zum König von Albanien krönen lassen – und blieb dies nach eigenen Angaben für vier bis fünf Tage. Bei seiner Rückkehr nach dem Krieg ließ er sich als Künstlernamen „ehemaliger König von Albanien“ in seinen Pass eintragen und avancierte zu einem Pankower Original. Nicht allein aus diesem Grund würde für seinen Enkel Norbert der Titel „ehemaliger Rummelkönig von Berlin“ bestens passen. Zumal seine Karriere viel länger währte als die seines Vorfahren.

Auf der Berlinale 2009, wo der Film in der Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ zu sehen war, avancierte Achterbahn schnell zu einem Geheimtipp – und das nicht nur für Berliner, die den Spreepark aus eigener Anschauung kennen. Was vielleicht auch daran liegen mag, dass Wittes Geschichte in einem Milieu verortet ist, an das wir gerne zurückdenken, an unsere Affinität zum Tand und zum Glitter, zu den Achterbahnen, den Karussells und den Imbissständen, die zu jedem Rummelplatz dazugehören. Und zum anderen erzählt Achterbahn eine universelle Geschichte von Visionen, Hybris und der Zerbrechlichkeit des Glücks, wie wir sie derzeit in allen Bereichen der Wirtschaft beobachten können, eine menschlich, allzu menschliche Geschichte vom Aufstieg und Fall eines Mannes, der im wahrsten Sinne des Wortes ganz hoch hinaus will. Auch wenn die Siegertypen vielleicht diejenigen sind, die wir bewundern – das Scheitern ist doch das, was die meisten von uns aus eigener Anschauung kennen. Wie tröstlich ist es da zu wissen, dass wir damit nicht alleine sind.

Achterbahn ist ein echter Glücksfall für das dokumentarische Kino. Eine Geschichte, die man sich jederzeit auch als Spielfilm vorstellen kann, weil sie all das enthält, was großes Kino wirklich braucht – Komik und Tragik, hochfliegende Träume und bittere Abstürze, Liebe, Verzweiflung und Pleiten. Und einen menschlichen „Helden“, der allen Widerständen zum Trotz immer wieder aufsteht. Einen Unterschied zum Spielfilm gibt es allerdings doch: Die Geschichte Norbert Wittes und seiner Familie ist wahr. Und berührt deshalb (und dank der differenzierten und in manchen Momenten) zutiefst poetischen Regie Peter Dörflers umso mehr.

Achterbahn

Zu Beginn und am Ende des Films sehen wir den Mann in einer Achterbahn, bei der man die Geschwindigkeit lediglich erahnen kann. Starr auf den Wagen montiert erfasst sie das Gesicht Norbert Wittes, der trotz der Rasanz ganz entspannt, vielleicht auch resigniert wirkt und beinahe zu träumen scheint. Hinter ihm in der Unschärfe verschwimmen die bunten Lichter des Rummelplatzes zu einem diffusen Meer aus Dunkelheit und Farben, begleitet von Beiruts sehnsuchtvoll melancholischem Song „Elephant Gun“.
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