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Regisseur Philipp Jedicke nähert sich der blühend-verschrobenen Musikszene in Wien. Das macht einerseits Lust auf Bier und Zigaretten, übernimmt aber ungefragt jede bestimmte Pose dieser Kunstfiguren und Lebenskünstler*Innen.

Vienna Calling (2023)

Eine Filmkritik von Sebastian Seidler

„Warum ist die Kamera dabei?“, fragt der linke Aktivist die Rapperin Esra Özmen, die gemeinsam mit ihrem Bruder Enes die Band EsRap anführt. Da drehe jemand einen Dokumentarfilm über die Musikszene Wiens. Ein ungläubiges Lachen: „Wen interessiert das denn?“ Diese kurze Szene aus „Vienna Calling“ sagt sehr viel über das Selbstverständnis dieser porträtierten, jungen, wilden Musikszene in Wien: Die anderen sind egal, man schaut auf sich und zieht einfach das eigene Ding durch.

Das ist der Spirit, den Philipp Jedickes Dokumentarfilm vermittelt. Es handelt sich nicht einfach nur um das Porträt einzelner Musiker*Innen, sondern vielmehr um das Einfangen eines Wiener Geistes – einer Atmosphäre, durchzogen von Zigarettenqualm, Schmäh und jeder Menge Bier. Alles ist angetrunken, leicht am Torkeln: Die Musik ist immer auch ein bierseliger Spott. Die diversen Beisln (österreichisches Gasthaus) werden zu den Saloons der Szene, in der sich alle sehr nahe stehen und ein Bild von Wien ergeben: Man gibt sich nicht mondän, sondern wendet sich dem Lokalen zu.

Zu den Künstler*Innen, die Jedicke vor die Kamera bringt, gehören die Songwriter Der Nino aus Wien und Voodoo Jürgens, die in ihren polternd-versoffenen Songs wienerisch-lakonische Geschichten voller schwarzem Humor erzählen: eine vertonte Lebenshaltung, die dem Tod mit einer Tschick im Mund entgegen grinsen und weiterhin durch die Nacht tanzen. Neben dieser Jungsmusik dürfen die/der geschlechtsneutrale Kerosin95 und die migrantisch geprägte Rapcombo EsRap eine ganz andere, dezidiert politische Position in den Film einbringen.

Das ist natürlich alles höchst eklektisch. Vienna Calling pocht nicht auf Selbstständigkeit. Es geht ums Gefühl, um diese einzigartige Haltung, die man gerade in Deutschland nicht so dezidiert findet: Da gibt es zwar auch um Bands wie Die Nerven und Karies eine verschworene Szene. Doch ist das alles viel weniger auf eine Stadt fokussiert und derart mit einer Lebensart verbunden. Beispielsweise gibt es in Köln durchaus eine aufstrebende Indie-Szene. Doch so verschroben und eigenwillig wie die Wiener ist das alles nicht. Wobei die Wiese auf der anderen Seite auch immer grüner erscheint.

Anders gesagt: Vienna Calling lässt sich vom „exotischen“ Wien allzu gerne mitreißen. Alle Protagonist*Innen dürfen in ihren Kunstfiguren verweilen. Vor allem die Männer. Die sind die Dandys, Flaneure und abgehalfterten Beatpoeten. Die Frauen hingegen kommen – bis auf Rapperin Esra – kurz. Sie geben sich politischer und lassen die Inszenierung als existentielle Notwendigkeit erscheinen. Das ist natürlich deutlich sperriger, weil sich der Wiener Schmäh damit nicht so gut verkaufen lässt.

Jedicke widmet sich lieber ausgiebig dem Schaffen von Voodoo Jürgens oder geht mit dem Nino zum Friseur von Falco. Dadurch entsteht Atmosphäre, die unterhält. Besonders viel hat der Film letztlich aber nicht zu erzählen. Für einen Musikfilm gibt es zu wenig Auftritte. Und als Dokumentarfilm liefert er zu wenig analytische Einsichten: Was suchen die Künstler*Innen in ihrer Szene? Wie begegnen sie der Tatsache, dass dieser Mythos der Verschwendung, der Rock’n’Roll, irgendwann mal an sein Ende kommt? Bei den Frauen könnte man Antworten finden. Nur ausgerechnet diese verliert Jedicke in seinem melancholisch-sehnsüchtigen Blick von außen aus den Augen.

Vienna Calling (2023)

„Vienna Calling“ begibt sich auf eine Reise ins subkulturelle Herz der österreichischen Hauptstadt, deren musikalischer Puls durch Künstler wie Bilderbuch, EsRap, Wanda oder Voodoo Jürgens schlägt. Hedonistisch und nihilistisch zugleich, verkörpern sie den Gegenentwurf zum Selbstoptimierungswahn. Sie sind unangepasste, skurrile Charaktere – und füllen Konzerthallen von Wien bis Hamburg.

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