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Nach dem Tod ihrer Mutter zeigt die durchs System gefallene Georgie, dass sie kein Opfer von Schicksalsschlägen ist, sondern kämpferisch auf sich selbst aufpassen kann – bis plötzlich ihr Vater in ihr Leben tritt.

Georgie (2023)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

(Nicht) Aftersun

„Georgie“ von Charlotte Regan ist einer der vielen Fälle, in denen der internationale Filmtitel dem ursprünglichen nicht das Wasser reichen kann. „Scrapper“, so der Originaltitel, heißt frei übersetzt so viel wie Schlägerin, wird aber im Kontext dieses feministischen Films vielmehr zum Signifikanten für Rage und Dagegensein. Der Titel „Georgie“ hingegen nennt lediglich die Protagonistin bei Namen. Georgie ist die Schlägerin, aber es geht in diesem Film auch nicht nur um sie.

Die berühmten fünf Phasen der Trauer – Georgie (Lola Campbell) streicht sie durch, wie andere die Tage im Kalender. „Bei welcher Phase bist du mittlerweile?“, fragt ihr bester Freund Ali (Alin Uzun) „Mit Verhandeln bin jetzt fertig, glaub ich“. Depression wäre also die nächste. Georgie hat ihre Mutter verloren. Die 12-Jährige lebt alleine – die Behörden auszutricksen, war ein Kinderspiel. Manisch geht sie Runden im Haus und richtet jedes Kissen, jede Tasse genauso hin wie vor dem Tod ihrer Mutter. Sie ist noch lange nicht über die erste Phase hinaus. Und dann taucht plötzlich Jason auf, gespielt von Harris Dickinson (Triangle Of Sadness) – ihr Vater. Sie hat ihn vorher noch nie gesehen. Aus ihrem chaotischen Trotz wird nun Schritt für Schritt eine Rückkehr in ein geordnetes Leben.

Georgie macht Spaß. Der Film sprudelt vor Einfällen, die ihre Kraft allesamt aus den unvoreingenommenen Kinderaugen ziehen. Spinnen im Haus bekommen Namen und eine definite Backstory, Beziehungen zueinander und Sprechblasen. Die hektische Kamera wird komplementiert mit präzisen 180-Grad-Drehungen, die passgenau auf Pointen abgestimmt den Fokus verschieben, und die Straßenmusik scheint sich in der Energie der unablässigen Georgie widerzuspiegeln. Wir begleiten Georgie und Ali beim Fahrräderklauen, beim Rumalbern – beim Kindsein. Das sind die stärksten Momente. Doch Regans Film wird immer ruhiger – Ali verschwindet abrupt aus der Erzählung und wird etwas hastig von Jason ersetzt. Gleicht die Ästhetik anfangs noch den Rap-Musikvideos, welche die Regisseurin sonst produziert, so verwandelt sich der Film im Verlauf immer mehr in eine gefühlvolle Coming-of-Age Geschichte. Der Film endet dort, wo Aftersun (2022) von Charlotte Wells anfängt.

Vergleicht man zwei Filme miteinander, die im kurzen Abstand veröffentlicht wurden, mag das so wirken, als unterstelle man dem späteren Film, etwas abgeschaut zu haben. Das ist natürlich oftmals nicht der Fall – durch die langen Phasen von Skript bis Film ist es schwer, den Zeitgeist, den man im Kino sieht, in ein eigenes Werk einfließen zu lassen. Vielmehr geht es bei solchen Vergleichen darum, interessante popkulturelle Phänomene, die sich im Kino spiegeln aufzuzeigen. In diesem Fall kann man anhand von Georgie und Aftersun gewisse kollektive Daddy-Issues diagnostizieren. Jason und Calum (Paul Mescal) aus Aftersun ähneln sich ungemein.

Doch Zuschauende bekommen auch Georgies Innenleben zu Gesicht. Dem Film entgleitet immer wieder die Wahrheit: Georgie ist eine unzuverlässige Erzählerin. Wir sehen die Welt durch ihre Augen. Versteckt hinter verschlossenen Tür, baut sie einen Turm aus Fahrrädern und Schrott – eine Leiter in den Himmel, zu ihrer Mutter. Das Hypersymbol der Trauer, der stetig wachsende Turm, der gleichzeitig die Hoffnung sein mag, wird schlussendlich durch Jasons nüchternen Blick als ein Haufen Schrott, kaum zwei Meter hoch, entlarvt. Diese Disjunktion zwischen Phantasie und Realität trifft hart.

Bei aller Begeisterung sollte man sich aber nicht ganz um den Finger wickeln lassen. Georgies Vergebungslaune gegenüber ihrem abgehauenen Vater gleicht der Sympathie, die das Publikum für Schauspieler Harris Dickinson mitbringt. Cool, lässig, eher ein Freund als eine Vaterfigur. Was, wenn man die Rolle anders besetzt hätte? Der Film ist so auf Versöhnung aus; Georgies anarchistische Kraft verpufft im Nichts. Hier liegt der entscheidende qualitative Unterschied zu Aftersun: Während der eine sich einer harten Position gegen die Vaterfigur nicht verschließt, hat Georgie sich selbst die Bürde eines Happy Ends auferlegt. Aus der Schlägerin wird letztendlich doch wieder eine brave Tochter.

Gesehen auf dem Internationalen Frauenfilmfest Dortmund+Köln 2024.

Georgie (2023)

Die 12-jährige Georgie lebt glücklich allein in ihrer Londoner Wohnung und füllt den Tag mit ihrer Fantasie aus. Als plötzlich ihr Vater auftaucht, von dem sie sich entfremdet hatte, zwingt dieser sie, sich der Realität zu stellen.

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