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In „Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte“ erfasst Klára Tasovská in essayistischem Stil die Kunst der Fotografin Libuše Jarcovjáková.

Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte (2024)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Die Welt durch die Augen der Künstlerin

Wie werden in etlichen Jahren wohl Dokumentarfilme über öffentliche Personen aussehen, die ihr Leben, zum Beispiel als Influencer:innen, akribisch auf dem Handy mit zahllosen Selfies und Bildern ihrer Umgebung eingefangen haben? Wie soll die Fülle von Material strukturiert werden? Und wie kann daraus eine interessante Geschichte für die große Leinwand entstehen?

Die 1952 in Prag geborene Fotografin Libuše Jarcovjáková entstammt selbstverständlich nicht der Social-Media-Ära. Sie dokumentierte ihr Dasein nicht, um Follower:innen zu gewinnen und Likes zu generieren. Dennoch liefert der filmische Essay Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte, in dem die tschechische Regisseurin Klára Tasovská den Werdegang der Künstlerin erfasst, eine beeindruckende Antwort auf die Frage, wie ein radikal autobiografischer Stil zu einer einnehmenden Kinoerfahrung werden kann.

Es sei ihre Absicht gewesen, den Zuschauer:innen zu ermöglichen, die Welt durch Jarcovjákovás Augen zu sehen, erläutert Tasovská in einem Interview. Dies gelingt ihr, indem der Film durch eine umfangreiche Recherche komplett aus zusammenmontierten Fotografien von Jarcovjáková erzeugt wurde. Es gibt keine Talking Heads und ebenso keine Archivaufnahmen, um Zeitkolorit zu schaffen. Ein Teil der Bilder ist statisch, ein Teil ist im Takt der eingespielten Musik arrangiert. Unterlegt sind viele Momente mit Jarcovjákovás Tagebucheinträgen, die per Voice-over von ihr selbst vorgelesen werden, und mit Geräuschen, durch die sich eine lebendige Atmosphäre entwickelt. Die Arbeit von Tasovská sowie des Schnittmeisters Alexander Kashcheev und des Komponistentrios Oliver Torr, Prokop Korb und Adam Matej ist bemerkenswert.

Wenn Jarcovjáková etwa in einer Druckerei zu arbeiten beginnt und dies fotografisch festhält, sind die Laute der Druckmaschinen zu hören. Auch das Schnurren und das Miauen einer Katze oder der Lärm in Kneipen und Clubs sind zu vernehmen, wenn wir entsprechende Bilder verfolgen. Die musikalischen Passagen haben wiederum eine enorme Sogwirkung. Sowohl in den Fotografien als auch in den Texten von Jarcovjáková ist eine Dringlichkeit zu spüren. Der einzige Weg, um zu überleben, sei es, Fotos zu machen, sagt die Künstlerin an einer Stelle. Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte schildert, wie der Titel schon erkennen lässt, eine Identitätssuche; es geht um den Wunsch, innere Freiheit zu finden, ohne sich anpassen zu müssen.

Der Film funktioniert als Zeitdokument, ohne das persönliche Narrativ jemals zu vernachlässigen. Wir erfahren, wie die Zwänge des repressiven tschechoslowakischen Regimes Jarcovjákovás Leben beeinflussen. Sie habe die Ahnung, viel im Leben erreichen zu können – und die Angst, dass es nicht klappt. Etliche Hindernisse stellen sich ihr in den Weg. Mit bewundernswerter Ehrlichkeit und Offenheit benennt sie die Konflikte, die insbesondere Frauen und queere Menschen betreffen. Ihre Fotografien der Communities der Roma und der vietnamesischen Migrant:innen sowie der queeren Szene bilden spannende Kontraste zu den Restriktionen, von denen die Tschechoslowakei geprägt ist. Dass Jarcovjáková häufig mit Nan Goldin verglichen wird, ist verständlich und mag dabei helfen, ihre Kunst einzuordnen. Dieses Werk zeigt allerdings, was für eine besondere, einzigartige Persönlichkeit mit ganz eigenem Blick Jarcovjáková ist.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

 

Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte (2024)

Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 versucht die Fotografin Libuše Jarcovjáková den Zwängen des repressiven tschechoslowakischen Regimes zu entkommen und begibt sich auf eine lange Reise in Richtung Freiheit.

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