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Eine Art Prostitution oder nützliches Ventil einer repressiven Gesellschaft? Die Zeitehe im Iran sorgt seit Langem für Kontroversen. Welche Katastrophe sie für die daraus entspringenden Kinder bedeutet, zeigt die einfühlsame Dokumentation von Niloufar Taghizadeh.

Nilas Traum im Garten Eden (2023)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Sündenpfuhl der heiligen Stadt

Im schiitisch regierten Iran gibt es eine Institution, die in allen anderen islamischen Ländern abgelehnt wird: die Zeitehe. Für nur 30 Minuten, aber auch für mehrere Jahre darf ein verheirateter Mann ganz legal Ehen mit einer Zweit-, Drittfrau oder gar Viertfrau schließen. Für Frauen hingegen ist nur eine einzige Zeitehe erlaubt. Vor allem für Männer ist die Zeitehe also eine staatlich legitimierte Möglichkeit, ihre Lust auszuleben, während Frauen oft in eine Art Prostitution gedrängt werden: sexuelle Dienstleistung auf Zeit gegen Mitgift. Der Dokumentarfilm „Im Bazar der Geschlechter“ der Österreicherin Sudabeh Mortezai machte 2009 ein westliches Publikum mit der kontroversen Praxis bekannt. Ihre deutsch-iranische Kollegin Niloufar Taghizadeh beleuchtet nun den Skandal, unter dem die Kinder aus einer solchen Zeitehe oft leiden. Sie gelten als quasi inexistent, dürfen keine Schule besuchen und bekommen keine medizinische Versorgung.

Nila ist ein aufgewecktes Mädchen. Mit neugierigen Augen schaut sie in die Kamera, erzählt offenherzig von ihren Träumen. Die Sechsjährige mit den üppigen Locken tanzt gerne und liebt ihre Katze über alles. Nur in die Schule darf sie nicht, obwohl sie sich schon selbst die Zahlen beigebracht hat. Denn Nilas Vater übernimmt keinerlei Verantwortung für das aus der Zeitehe hervorgegangene Kind. Er leugnet die Beziehung mit Nilas Mutter Leyla und somit die Vaterschaft einfach ab, denn eine Zeitehe kann, muss aber nicht von einem Geistlichen registriert werden.

Seit sechs Jahren kämpft Leyla schon vor Gericht um die Rechte ihrer Tochter, bislang vergeblich. Nur wenn der Vater das Kind anerkennt, gilt es als legitim und bekommt eine Geburtsurkunde. Macht sich der Erzeuger jedoch einfach aus dem Staub, profitiert er von einer Lücke im iranischen Gesetz. Uneheliche Kinder gibt es im Land der Mullahs nicht, zumindest nicht offiziell. Sex zwischen Unverheirateten ist schließlich verboten und wird teils drakonisch mit Steinigung bestraft.

Warum die Zeitehe überhaupt erlaubt ist, darüber redet ein Geistlicher im Fernsehen ganz unverblümt. Lust sei ein Bedürfnis wie Hunger oder Durst, doziert er. Aber Frauen seien nicht immer verfügbar, wegen Krankheit oder Menstruation oder weil Männer eine längere Reise machen müssten. Würde man die Zeitehe nicht erlauben, würde das zur Prostitution führen, so die Theorie der geistlichen Machthaber.

Das „älteste Gewerbe“ gibt es allerdings auch und vor allem in der heiligen Pilgerstadt Maschhad, in der der Film spielt. Hier trieb zum Beispiel ein Serienmörder sein Unwesen, der reihenweise Prostituierte umbrachte, teilweise mit Duldung oder sogar Billigung der Obrigkeit. Der Thriller Holy Spider (2022) von Ali Abbasi basiert auf diesen Fakten, die ähnlich wie in Nilas Traum im Garten Eden Fragen aufwerfen: Warum eigentlich feiert die „Sünde“ gerade an einem heiligen Ort wie der Millionenmetropole fröhliche Urstände? Maschhad ist nämlich wie die ebenso heilige Stadt Qom für besonders viele Zeitehen berüchtigt.

Nilas Mutter Leyla lacht oft in diesem Film, aber manchmal kann sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Zum Beispiel, wenn sie vom Gericht erzählt. Ungestraft habe sie der Kindsvater dort eine Hure nennen dürfen. Und der Richter sagte, ihre Tochter sei ein Bastard. Trotzdem zieht Leyla immer wieder vor den Kadi, mit drei verschiedenen Richtern hatte sie es bereits zu tun. Ihre Hartnäckigkeit und innere Überwindung zahlen sich letztlich aus. Kurz vor Nilas siebtem Geburtstag ergeht aufgrund eines DNA-Tests das Urteil, dass der Mann aus der Zeitehe zweifellos der Vater ist. Nila darf mit den anderen Kindern zur Schule gehen.

Was dort nun passiert, erleben wir Zuschauenden dank heimlicher Aufnahmen hautnah mit, während wir zuvor die Szenen aus der Justiz nur aus Leylas Schilderungen kennenlernten. Aus dem Unterricht wird nämlich vorerst nichts, Leyla soll plötzlich eine Sorgerechtsbescheinigung beibringen, die nur der Vater unterschreiben kann, der sein Kind sieben Jahre verleugnet und noch nie gesehen hat. Die Mutter wird von einem Amt zum nächsten geschickt. Es ist ein Hürdenlauf, wie ihn Franz Kafka kaum grotesker hätte erfinden können. Um ihn in allen Einzelschritten mit versteckter Kamera dokumentieren zu können, riskierten die Filmemacherin und die Beteiligten „mehr als ihre Freiheit“, wie es im Vorspann heißt.

Nicht jeder Winkelzug der überbordenden Bürokratie lässt sich allerdings aus westlicher Laiensicht nachvollziehen. Hier hätte es dem Film gutgetan, wenn Regisseurin Niloufar Taghizadeh, die ebenfalls in Maschhad aufgewachsen ist und eine Mitschülerin von Leyla war, das Geschehen durch Kommentare eingeordnet hätte. In anderen Momenten jedoch überzeugt das Konzept der mutigen und frauenpolitisch wichtigen Dokumentation. Vor allem dann, wenn sie der faktisch erschütternden Realität die Lebensfreude von Mutter und Tochter entgegenstellt, eingefangen in poetischen Stadtaufnahmen von glitzernden Lichtermeeren, bunten Drachen am Himmel und den Träumen vom Fliegen, die den Film wie einen roten Faden durchziehen. Nicht als Opfer wollte die Regisseurin Leyla und Nila zeigen, sondern als humorvolle Menschen, deren Hoffnungen und Sehnsüchte sie gestärkt aus Diskriminierung und Anfeindung hervorgehen lassen. Davon können wir uns hier im verwöhnten Westen wohl eine Scheibe abschneiden.

Nilas Traum im Garten Eden (2023)

Leyla und ihre sechsjährige Tochter Nila sind unzertrennlich. Doch Nila stammt aus einer sogenannten „Ehe auf Zeit“, die ihren rechtlichen Status im Unklaren belässt und sie davon abhält, die Schule zu besuchen. Doch Leyla kämpft unermüdlich um das Sorgerecht ihrer Tochter.
 

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