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Belarus: Eine Mutter kämpft für die Bestrafung derer, die ihren Sohn während des Wehrdienstes zu Tode gequält haben. Schnitt: Ein junger Mann soll bald eingezogen werden. In der Verknüpfung beider Schicksale entsteht ein erschreckendes Bild nicht nur der Armee, sondern des ganzen Landes.

Motherland (2023)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Zwischen Aufbegehren und Resignation

Belarus jenseits der Nachrichtenbilder: In nachdenklichen Alltagsszenen dokumentieren Alexander Mihalkovich und Hanna Badziaka ein Land zwischen Aufbegehren und Resignation, Frühlingserwachen, Sommerprotesten und Winterstarre. Es sind stille Bilder, die hinter die Fassade blicken und vielleicht besser verstehen helfen, wie diejenigen postsowjetischen Gesellschaften ticken, die den Weg zur Freiheit nie wirklich eingeschlagen haben. Wer dabei auch an Russland und dessen Aggression gegen die Ukraine denkt, liegt völlig richtig, auch wenn die beiden belarussisch-ukrainischen Filmemacher solche Bezüge höchstens in Schrifttafeln, aber nie in ihrer beinahe lyrischen Visualität herstellen. Gerade darin liegt der Reiz ihrer Dokumentation: nicht zu bebildern, was sowieso fast jeder im Westen denkt, sondern ohne didaktische Vorgaben genau hinzuschauen, um tiefere Einsichten zu ermöglichen.

Ein Schlüsselbegriff ist dabei die sogenannte „Dedowschtschina“, auf Deutsch etwa „Herrschaft der Großväter“. Gemeint ist eine informelle Praxis im Militär, gemäß der die länger dienenden Soldaten, „Großväter“ genannt, die neu ankommenden Wehrpflichtigen nach Belieben schikanieren dürfen. Das Mobbing reicht von stumpfsinnigen Putzaufgaben über das Abnehmen des Solds bis zu körperlichem und seelischem Missbrauch. In einigen Fällen werden junge Rekruten auch gefoltert und sogar ermordet, ohne dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Praxis der Dedowschtschina stammt noch aus der Zarenzeit und griff seit den 1970er Jahren in den sowjetischen Streitkräften immer weiter um sich. Sie existiert in manchen postsowjetischen Gesellschaften noch heute. 

In zwei unabhängigen Erzählsträngen begleitet der Film zum einen die Mutter Svetlana, deren Sohn in einem Sarg vom Wehrdienst zurückkehrte, mit blauen, grünen und gelben Flecken auf dem Rücken als klarem Beweis systematischer Misshandlungen. Suizid sei die Todesursache, sagen hingegen die Militärs. Der junge Mann sei an einem Strick aufgehängt gefunden worden. Svetlana will die Mörder dennoch zur Rechenschaft ziehen. Im Zug reist sie durchs ganze Land, besucht die Eltern anderer Opfer. Zu einer Sammelklage will sie sie bewegen. Jede Familie solle sich außerdem direkt an Präsident Alexander Lukaschenko wenden.

Gegenläufig ist die zweite Geschichte angelegt. Sie dreht sich um Nikita, einen jungen Mann, der gerade seinen Musterungsbefehl erhalten hat und seiner Zukunft mit Schrecken entgegensieht. Wird die Clique aus Techno-Fans, mit denen er gewöhnlich feiern geht, noch existieren, wenn er nach einem knappen Jahr das Martyrium überstanden hat? Er werde dann ein „Wrack“ sein, fürchtet Nikita, und unbedingt auf die Freundschaft der anderen Jungs angewiesen, um wieder auf die Beine zu kommen. Neben diesen beiden ineinander geschnittenen Erzählsträngen gibt es auf der Tonspur noch ein drittes Element. Es beschäftigt sich nicht mit der Zeit vor oder nach dem Wehrdienst, sondern während der Tortur. Dazu liest eine Off-Stimme Briefe eines jungen Rekruten an seine Mutter vor. „Jeder versucht, den anderen zu dominieren“, heißt es da. Und an anderer Stelle: „Ich vermisse mein altes Leben“.

Schon sehr bald wird deutlich, dass es in der Collage dieser unterschiedlichen Perspektiven nicht nur um das Militär geht. Die Armee und ihre Skandale dienen vielmehr als Metapher für ein viel tiefer sitzendes Problem. Der alte Vater von Nikita bringt es mit staunenswerter Selbstverständlichkeit auf den Punkt: „All die widerspenstigen Windungen und Biegungen deines Geistes werden alle schön begradigt durch die scharfkantige militärische Ordnung“, prophezeit er dem Sohn. Der Spruch ist als Trost gemeint und offenbart zugleich die Folgen, wenn all die zurechtgestutzten Einheitsmänner nach ihrer Rückkehr in die Gesellschaft einsickern und dereinst zu ihren Söhnen dasselbe sagen werden. Der Krieg, das legen die vielschichtigen Bilder nahe, hat in Weißrussland nie wirklich aufgehört. Die Proteste des Sommers 2020 gegen die gefälschte Präsidentenwahl sind nur ein zartes Pflänzchen inmitten einer komplett durchmilitarisierten Monokultur.

Aber die Rosen, auch das gehört zur Wahrheit, blühen selbst unter der lähmenden Schneedecke am frischen Grab. Selbst wenn Svetlana und Nikita (noch?) keine Siege verzeichnen können – der Film widmet sich ihren Bemühungen und ihren Gedanken in zärtlich eingefangenen Szenen. Die Bildsprache bildet einen scharfen Kontrast zur gezeigten Militarisierung, zwischen Form und Inhalt klafft eine tiefe Kluft. Was das Land eigentlich verdient hätte, liegt in der Art, wie es gezeigt wird: in der Zuwendung zu den kleinen Dingen, der Liebe zum Detail und der Wertschätzung des Individuums. Wer Hoffnung sucht, muss genau hinschauen. Denn momentan herrscht Eiszeit in Belarus. Um etwas anderes zu behaupten, müsste man lügen.

Motherland (2023)

Belarus.  Svetlana hat ihren Sohn verloren. Er wurde tot aufgefunden, während er seinen Wehrdienst leistete.  Sie versucht die Gewaltkultur im belarussischen Militär aufzuklären. Gleichzeitig wird eine Gruppe junger Freunde aus der Techno-Szene selbst eingezogen.

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