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In ihrer Romanverfilmung „Kalak“ zeigt Isabella Eklöf einen traumatisierten Familienvater aus Dänemark, der sich in Grönland ein neues Leben aufbauen will.

Kalak (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Ecken und Kanten

In ihrem Langfilmdebüt „Holiday“ (2018) nahm uns die schwedische Drehbuchautorin und Regisseurin Isabella Eklöf (Jahrgang 1978) mit auf die Urlaubsreise einer jungen Frau in die türkische Stadtgemeinde Bodrum. Zwischen abrupter Gewalt und dekadentem Ennui zeigte sie eine kühle Welt ohne Mitgefühl, in der die Protagonistin nach Luxus strebt. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Ali Abbasi schrieb sie außerdem (auf Basis einer Kurzgeschichte und eines Drehbuchentwurfs von John Ajvide Lindqvist) das Skript zu Abbasis Fantasy-Drama „Border“ (2018), das seine Genre-Elemente mit einer unkonventionellen Liebesgeschichte kombinierte, wodurch die Nordic-Noir-Atmosphäre mit erstaunlich viel Wärme und Zärtlichkeit aufgeladen wurde.

Auch in ihrem neuen Werk Kalak bringt Eklöf höchst unterschiedliche Stimmungen zusammen – und schafft es abermals, ein Milieu sehr prägnant zu charakterisieren und die handelnden Figuren psychologisch präzise einzufangen, ohne ihnen dabei all ihre Geheimnisse zu nehmen. Die (Anti-)Held:innen, die Eklöf uns als (Co-)Autorin und/oder Regisseurin präsentiert, sind stets rätselhaft, widersprüchlich und kantiger als ein skandinavischer Felsgipfel – und doch in ihrer Art absolut schlüssig.

Das Drehbuch zu Kalak, das Eklöf mit Sissel Dalsgaard Thomsen verfasst hat, basiert auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Kim Leine. Der Plot beginnt im Jahre 1984 in Kopenhagen. Ein junger Mann liegt mit T-Shirt und Boxershorts auf einer Couch und schläft; es ist früh am Morgen. Ein älterer Mann betritt das Wohnzimmer – und schnell wird die Szene sexuell explizit. Dass wir hier eine Situation des sexuellen Missbrauchs sehen, den der Vater Ole (Søren Hellerup) an seinem Sohn Jan (Emil Johnsen) verübt, erschließt sich uns erst allmählich nach einem Zeitsprung ins Jahr 1999. Jan hat Dänemark längst den Rücken gekehrt und ignoriert die Briefe von Ole, in denen dieser sich als im Stich gelassenes Opfer darstellt und seine fortschreitende Krebserkrankung mitteilt.

Mit seiner Partnerin Laerke (Asta Kamma August) und den zwei gemeinsamen Kindern lebt Jan (zunächst) in Nuuk, der Hauptstadt Grönlands. Ähnlich wie Sascha, die Hauptfigur aus Holiday, ist Jan in seiner Umgebung ein Fremdkörper. Doch während Sascha als Touristin wenig Interesse daran erkennen ließ, sich in das Land und in die Menschen dort einzufühlen, wirkt Jan beinahe übermotiviert, ein sogenannter „Kalak“, ein „schmutziger Grönländer“, zu werden. Von Karina (Berda Larsen), die wie er im örtlichen Krankenhaus tätig ist, wird ihm zwar erklärt, dass der Begriff durchaus auch als Beleidigung zu verstehen ist; für ihn hat er indes etwas durchweg Positives – vielleicht deshalb, weil es ihm dadurch möglich erscheint, eine neue Identität anzunehmen und die Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen.

Vieles in Kalak wird uns ganz nebenbei vermittelt. „Nazi Dane Go Home“ ist als Graffito an eine Hauswand gesprüht, wodurch das Verhältnis zwischen Jans Herkunftsland und der einstigen dänischen Kolonie, in der Jan nun Fuß fassen will, in einem flüchtigen Moment auf den Punkt gebracht wird. Ebenso haben andere Themen, die in etlichen Filmen vermutlich ein zentraler Konflikt wären, hier etwas verblüffend Beiläufiges. So nimmt es Laerke etwa relativ gelassen hin, dass Jan Sex mit anderen Frauen hat und dies gar nicht vor ihr zu verbergen versucht. „Sie ist hübsch“, meint Laerke trocken, als sie eine seiner Affären kennenlernt.

Sowohl Karina als auch die junge Mutter Ella (Connie Kristofferson), mit denen Jan intim wird, reagieren auf Jans Unbefangenheit hingegen weniger beherrscht und fühlen sich rasch vernachlässigt. Der Film nimmt in der Schilderung dieser Dynamiken keine (moralische) Wertung vor, sondern beobachtet einfach sehr genau die Rastlosigkeit von Jan – und die Konsequenzen, die sich daraus für ihn und sein Umfeld ergeben. Die raue Schönheit der Landschaft, die der Kameramann Nadim Carlsen einfängt, ist ein perfekter Spiegel dieser permanenten Unrast.

An einer Stelle erzählt Jan, er träume von einer erweiterten Familie, in der alle friedlich zusammenleben. Emil Johnsen verkörpert die Figur in all ihrer Ambivalenz. Immer wieder blitzt das Trauma der Jugend auf. Im Berufsalltag und im Privaten schwankt Jan zwischen großem Engagement, Naivität und dem Wunsch, Nähe zu spüren – sei es bei der Geburt eines Kindes, beim Flirten mit Kolleginnen, beim Einkauf auf dem Markt oder beim nachbarschaftlichen Beisammensein.

Kalak mutet seinem Protagonisten und uns einiges zu, von harten Schicksalsschlägen über Medikamentensucht bis hin zu einer zutiefst unangenehmen Konfrontation mit dem missbräuchlichen Vater. Eklöf driftet dabei jedoch nie ins Exploitative ab. Sie erzählt mit schonungsloser Offenheit, aber voller Empathie von einem Menschen auf der Suche nach innerer Ruhe.

Gesehen beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián.

Kalak (2023)

Jan ist auf der Flucht vor sich selbst, nachdem er von seinem Vater sexuell missbraucht wurde. Er lebt mit seiner kleinen Familie in Grönland und sehnt sich danach, Teil der offenen, kollektivistischen Kultur zu sein und ein Kalak, ein „schmutziger Grönländer“, zu werden.

 

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