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Im Oscar-nominierten Drama „Ich Capitano“ zeigt Matteo Garrone das Schicksal zweier junger Geflüchteter aus dem Senegal.

Ich Capitano (2023)

Eine Filmkritik von Reinhard Kleber

Europatrip

Die Flucht über das Mittelmeer gilt als gefährlichste Migrationsroute der Welt. Seit 2015 sind dort nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration mindestens 26.000 Menschen ums Leben gekommen. Und die Dunkelziffer der unbekannten Migranten, die unterwegs ertrinken, dürfte hoch sein. Für seinen jüngsten Film hat der italienische Regisseur Matteo Garrone („Gomorrha“) in Süditalien mit vielen jugendlichen Geflohenen gesprochen, die ihm ihre Lebensgeschichten erzählten. Darunter war auch die Geschichte eines Afrikaners, der mit 15 Jahren ein Boot bis zur italienischen Küste steuerte und so das Leben der Insassen rettete. Die Erlebnisse flossen in das Drehbuch des packenden Migrantendramas ein, das Garrone zusammen mit drei weiteren Autoren verfasste.

Der 16-jährige Seydou (Seydou Sarr) und sein gleichaltriger Cousin Moussa (Moustapha Fall) wollen weg aus dem Senegal. Sie möchten nach Europa gehen und dort als Musiker berühmt werden. Zu Hause malen sie sich aus, dass sie dort weißen Fans Autogramme geben. Nachdem die Schüler sechs Monate lang den Lohn aus Aushilfsjobs gespart haben, brechen sie trotz ernsthafter Warnungen vor den Gefahren des Trips in Dakar auf, ohne sich von ihren Familien zu verabschieden. Die lange Reise über Mali, Niger und Libyen erweist sich schnell als anstrengende, lebensgefährliche Odyssee. Ob Passfälscher, korrupte Grenzpolizisten, Schlepper, Menschenhändler – alle haben es auf ihr Geld abgesehen. Nach beschwerlichen Fahrten in Bussen und auf einem Pick-up müssen sie mit anderen Migranten zu Fuß durch die Sahara marschieren, eine Strapaze, die nicht alle überleben.

Nachdem bewaffnete Männer die Geflohenen in Libyen ausgeraubt haben, werden die Cousins getrennt. Seydou landet mit vielen anderen Migranten in einem heruntergekommenen Gefängnis, in dem Kriminelle mit scheußlichen Foltermethoden Lösegeld von den Angehörigen erpressen. Mit Hilfe eines älteren Mitgefangenen kann er das Gefängnis verlassen, um sich als Arbeitssklave zu verdingen, gelangt aber schließlich mit viel Glück nach Tripolis. Dort trifft er endlich Moussa wieder, dem jedoch auf der Flucht aus einem Gefängnis ins Bein geschossen wurde. Er hat resigniert: Er will am liebsten zurück in den Senegal.

Ich Capitano ist konsequent aus der Sicht der beiden Protagonisten erzählt, die von den senegalesischen Nachwuchsdarstellern Seydou Sarr und Moustapha Fall authentisch und mit großer Leinwandpräsenz gespielt werden, sodass sie rasch zu starken Identifikationsfiguren avancieren. Bemerkenswert ist auch, wie die beiden ihre Figuren fortentwickeln: Während der spitzbübische Moustapha zunächst die treibende Kraft ist und Seydou zögert, verliert Moustapha über so viele Störerfahrungen den Mut, Seydou dagegen wächst über sich hinaus und wird auf der Reise erwachsen. Auf den 80. Internationalen Filmfestspielen in Venedig erhielt Seydou Sarr für seine Leistung den Marcello-Mastroianni-Preis als bester Nachwuchsdarsteller, Matteo Garrone wurde dort mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie ausgezeichnet.

Der Regisseur, der für seine Filme Gomorrha (2008) und Reality (2012) jeweils den Grand Prix des Filmfestivals in Cannes und für Dogman (2018) und Pinocchio (2019) in seiner Heimat jeweils mehrere David-di-Donatello-Preise gewonnen hat, nimmt sich viel Zeit für die Exposition, die die Lebensumstände und den familiären Kontext der Cousins schildert. Die beiden naiven Jungs leben zwar in ärmlichen Verhältnissen, aber leiden keine Not und werden nicht politisch verfolgt. Sie wollen einfach ein besseres Leben und träumen von Wohlstand und Ruhm im fernen Europa. Von ihren schönen Träumen lassen sie sich auch durch die Warnungen eines erfahrenen Basarhändlers oder von Seydous fürsorglicher Mutter nicht abbringen. 

Umso ernüchternder und grausamer sind die Erfahrungen, die Seydou und Moussa unterwegs machen müssen. Für die Mittelsmänner und Schlepper, die den Migranten bei der Organisation der Reise helfen, sind diese austauschbare, anonyme Kunden. „Der nächste“, ruft der Fotograf, der die Fotos für die gefälschten Pässe anfertigt, ein ums andere Mal. Anteilnahme und Solidarität finden die Fliehenden nur untereinander. 

Je weiter die Cousins in die Wüste vordringen, desto gefährlicher wird die Odyssee. Als ein Passagier bei rasender Fahrt über Sanddünen vom Jeep fällt, hält der skrupellose Fahrer nicht an – der Unglückliche wird verdursten. Und beim endlosen Fußmarsch durch die heiße Wüste laufen die Jungs mehrmals mit ängstlichem Seitenblick an halb vom Sand verschütteten Leichen von Schicksalsgenossen vorbei, die die Anstrengungen nicht überlebt haben. Die Unerbittlichkeit der lebensfeindlichen Sahara kontrastriert dabei umso intensiver mit der faszinierenden Schönheit der Landschaftsbilder, die der Kameramann Paolo Carnera komponiert.

Besonders erschütternd ist eine Szene, in der Seydou vergeblich versucht, einer entkräfteten Frau im mittleren Alter in der Wüste auf die Beine zu helfen. Wenig später gönnt die Regie dem Jungen und uns einen Moment der Erleichterung, als Seydou im Traum zu der zurückgelassenen Migrantin zurückkehrt und diese sich in die Luft erhebt, um in die erlösende Freiheit zu schweben. Während solche traumhaften Intermezzi als willkommene Kontrapunkte den bitteren Realismus der geradlinigen Inszenierung auflockern, muss man in puncto Plausibilität gleich mehrmals ein Auge zudrücken, wen die Jungs nur durch merkwürdige Zufälle aus Notlagen herausfinden oder nur mit übermäßigem Glück überleben. 

Auch wenn der Film sich auf die abenteuerliche Afrika-Reise konzentriert und Europa nur am Rande vorkommt, so bleibt die politische Dimension des Migrationsproblems keineswegs außen vor. Wir werden Zeuge, wie der Krisenstaat Libyen die kriminellen Machenschaften von Folterern, Lösegelderpressern und Schleppern duldet und wie westliche Demokratien wie Italien und Malta versuchen, sich gegen weitere Zuwanderer und Asylsuchende möglichst abzuschotten. Als Seydou wegen eines medizinischen Notfalls auf dem Mittelmeer über Funktelefon eine Notrufnummer anruft, bekommt er zur Antwort, dass die Küstenwache in Malta nicht antwortet und Italien die Zuständigkeit für die Menschen in Seenot auf Malta abschiebt. 

Ich Capitano (2023)

Seydou und Moussa leben im Senegal und teilen einen Traum: Die beiden Teenager wollen in Europa leben und als Musiker berühmt werden. Ihr Wunsch samt Aussicht auf ein besseres Leben ist so groß, dass sie eines Tages alle Warnungen in den Wind schlagen und sich voller Abenteuerlust auf den Weg nach Italien machen. Doch ihre Reise wird nicht der Roadtrip, den sie sich vorgestellt haben. Der Weg durch die Wüste, die libyschen Gefängnisse und auch die Überquerung des Meeres stellen sich als lebensgefährlich heraus. Die beiden Freunde müssen nicht nur für ihren Traum kämpfen, sondern auch um ihr Überleben…

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