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In „En attendant la nuit“ erzählt Céline Rouzet eine ungewöhnliche Vampirgeschichte im Kreise einer Familie.

For Night Will Come (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Beiß mich!

1976 entzauberte George A. Romero mit seinem Horrordrama „Martin“ den Vampirmythos, indem er seinen blutsaugenden Protagonisten nicht (wie bis dato üblich) als übernatürliches Wesen mit Hypnosekraft und Fangzähnen zeigte, sondern als psychopathischen Menschen mit Spritze und Rasierklinge. Auch in „En attendant la nuit“ von Céline Rouzet hat das Verlangen der Hauptfigur nach Blut nichts Mythologisches an sich.

Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem titelgebenden Mörder aus Martin und dem Jugendlichen Philémon Feral (Mathias Legout-Hammond), den wir hier kennenlernen: Der 17-Jährige ist stark in seine Familie, bestehend aus der Mutter Laurence (Élodie Bouchez), dem Vater Georges (Jean-Charles Clichet) und der kleinen Schwester Lucie (Laly Mercier), eingebunden. Alle anderen Familienmitglieder trinken kein Blut, sorgen aber verlässlich dafür, dass Philémon auf „zivilisiertem“ Wege via Transfusionen an die begehrte Körperflüssigkeit gelangt.

Überraschenderweise beginnt En attendant la nuit mit der Einblendung, dass die Geschichte auf wahren Begebenheiten basiere. Nachdem wir die Geburt Philémons verfolgt haben, sehen wir, wie Laurence und Georges alsbald heimlich mitten in der Nacht mit dem Baby das Krankenhaus verlassen. Ein Leben auf der Flucht setzt ein. Nach einem Zeitsprung um mehr als anderthalb Dekaden ins Jahr 1997 sind die Ferals zu viert – und wollen sich (mal wieder) eine neue Existenz in einer Vorstadt in den Bergen aufbauen. Unauffällig, gar langweilig wollen sie erscheinen, um keinen Verdacht in der friedlich anmutenden Gemeinde zu erwecken.

In den großen Gärten in der Nachbarschaft ist der Rasen so grün, dass er künstlich wirkt. Der introvertierte Philémon, der sich tagsüber in den Schatten der Bäume aufhalten und die pralle Sonne meiden muss, verbringt viel Zeit in der Garage, wo seine Mutter ihm Blut überträgt. Um an weiteres Blut zu kommen, soll Laurence als Krankenschwester bei Blutspenden Beutel entwenden.

Aus diesem riskanten Vorhaben zieht die Inszenierung in einigen Momenten enorme Spannung. Wiederholt droht die errichtete Fassade einzustürzen. Auch in späteren Augenblicken der Eskalation beweist die Regisseurin ihr Gespür für Dramatik. Der minimalistische und doch intensive Elektro-Score und die klare zeitliche Verortung, mit einem Walkman als Heiligtum und einer Videothek als Schatzkammer für den adoleszenten Helden, erzeugen eine stimmige Atmosphäre.

Das Drehbuch, das Rouzet zusammen mit William Martin geschrieben hat, gibt sowohl der Eltern- als auch der Teenagerperspektive den nötigen Raum. Der Wunsch, einfach zu den Gleichaltrigen im Ort dazugehören zu können, bringt Philémon dazu, stetig zu testen, wie lange er es im Sonnenlicht aushält. Er mache seiner Familie „das Leben zur Hölle“, meint er gegenüber Camila (Céleste Brunnquell), die seine mysteriöse Art als anziehend empfindet. Was für andere ganz „natürlich“ sei, sei ihm nicht möglich.

Der Vampirismus steht hier stellvertretend für das Gefühl, anders zu sein – und wird von dem begabten Debütanten Mathias Legout-Hammond mit Hingabe interpretiert. Wenn Philémon in einer Szene bittere Tränen übers Gesicht laufen, weil die örtliche Jugendclique ihn bei einer Kinovorstellung des Zombieklassikers Die Nacht der lebenden Toten (1968) mit Popcorn bewirft, ist das wahrlich herzzerreißend. Nichts wünschen wir uns in dieser Situation mehr, als dass Philémon einfach nur mit seiner ängstlichen Schwester das schwarz-weiße Gruseltreiben genießen könnte.

Élodie Bouchez wiederum, die 1994 in einem der schönsten Coming-of-Age-Filme aller Zeiten – Wilde Herzen von André Téchiné – mitgespielt hat, lässt in ihrer Darbietung der Mutter keinen Zweifel daran, dass diese zu allem bereit ist, um ihren Sohn zu schützen. Ähnlich wie Near Dark (1987) von Kathryn Bigelow widmet sich En attendant la nuit dem Ausgegrenzt-Sein als kollektive Erfahrung – und schlägt sich klar auf die Seite derer, die von der Mehrheit als „Monster“ geächtet werden.

Gesehen bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig.

For Night Will Come (2023)

Die Familie Feral zieht in ein neues Viertel und möchte so normal und freundlich wie möglich aussehen. Doch ihr Sohn Philemon ist kein gewöhnlicher Teenager. Als er seiner neuen Nachbarin Camila näher kommt, wächst sein Blutdurst und seine Andersartigkeit lässt sich nicht mehr verbergen.

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