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In manchen Ländern ist Mädchen vieles untersagt, zum Beispiel Fahrradfahren. Wie sich Verbote umgehen lassen und wie schiere Hartnäckigkeit über raue Wirklichkeit siegt, erzählt ein Kinder- und Jugendfilm aus Bangladesch, der von farbenfroher Magie ebenso lebt wie von detailreichem Realismus.

Rikscha Girl (2021)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Wie Kunst Flügel verleiht

Die einen strampeln sich die Seele aus dem Leib, die anderen schauen bequem auf den durchgeschwitzten Rücken des Fahrers. Kaum ein anderes Transportmittel symbolisiert krasser den Unterschied zwischen Arm und Reich als eine Fahrrad-Rikscha. Vor allem, wenn sie keinen E-Motor zur Unterstützung hat und nicht zur Touristenbelustigung dient wie in einigen der hiesigen Großstädte. Sondern wenn sich Abertausende mit schierer Muskelkraft ins gefährliche Verkehrschaos asiatischer Metropolen stürzen. Trotzdem kann sich das Teenager-Mädchen Naima (Novera Rahman) nichts Attraktiveres vorstellen, als so zum Unterhalt ihrer Familie beizutragen. Selbst wenn sie sich dazu als Junge verkleiden muss in diesem farbenfrohen Kinder- und Jugenddrama des bangladeschischen Regisseurs Amitabh Reza Chowdhury. Denn Frauen dürfen in dem patriarchalisch geprägten Land keine Rikscha fahren.

Einmal, als Naima auf dem Dach eines unfertigen Hochhauses sitzt, sagt sie über die ihr zu Füßen liegende Metropole Dhaka, Hauptstadt von Bangladesch, einen denkwürdigen Satz: „Wie schön sie von hier oben aussieht“ – und wie hässlich aus der Nähe. Das Nebeneinander von Schönem und Hässlichem, von märchenhafter Überhöhung und naturalistisch genauem Alltag bildet auch das Leitmotiv des Films. Naima ist aus ihrer nicht weit entfernten ländlichen Heimat hierher nach Dhaka geflohen, denn mit dem Malen, ihr großen Leidenschaft für Kunst, verdient die Schulabbrecherin zu wenig. Vor allem, seit ihr Vater (Naresh Bhuiyan) schwer krank wurde, der selbst mit dem Rikscha-Fahren den Unterhalt der Familie sicherte. Zwar hatte der Papa immer die Malkünste seiner Tochter bewundert und ihr das Versprechen abgenommen, ihrem Talent nie untreu zu werden. Doch jetzt gibt es für die Familie, die wie 80 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben muss, kaum einen anderen Ausweg. 

Das klingt nach klassischem Sozialdrama, ist aber dank der jungen Heldin ein kraftvoller, farbenfroher und optimistischer Film geworden, basierend auf dem 2007 erschienenen Roman der indisch-amerikanischen Schriftstellerin Mitali Perkins. Naima bewährt sich darin nicht nur als begabte Malerin, sondern auch als Überlebenskünstlerin. Laut wehrt sie sich, wenn man nicht den versprochenen Lohn für ihre Arbeit zahlt, und im Zweifelsfall kann sie auch zuschlagen. In ihrer unerschütterlichen Selbstbehauptung erinnert sie ein wenig an die Protagonistin aus Das Mädchen Wadjda (2012) von Haifaa Al Mansour. Ebenso wie Wadjda lässt sich Naima den Traum vom Fliegen und von einer besseren Zukunft nicht nehmen, gegen alle Widerstände. 

Regisseur Amitabh Reza Chowdhury verwebt elegant Milieuschilderung mit dramatischer Verwicklung, um beide Seiten der Lebenswelt von Naima detailreich auszuschmücken: zum einen die materielle Not der fünfköpfigen Familie, die auf engem Raum in einer ärmlichen Hütte lebt; zum anderen den unermüdlichen Antrieb des Mädchens, das Leben im buchstäblichen Sinne zu verschönern, oft mit Bildern vom Fliegen, die der Film mit Animationen zum Abheben bringt. Die Rikscha des Vaters hat die Tochter farbenfroh in ein viel bewundertes Gefährt verwandelt, ein mit Blumenmotiven umrankter Pfau verziert die Straßen ihres Dorfes. Und nachts, wenn Naima nicht schlafen kann, setzt sie die Bemalung der Hütte fort, in der die Familie lebt. Die Wirklichkeit erscheint mit den Augen des fantasiebegabten Mädchens weniger trist, als sie dem westlichen Betrachter vielleicht vorkommt. Alles, was das Leben ein wenig schöner macht, begeistert das Mädchen und offensichtlich auch den Filmemacher: Tanz, Musik, Kino, aber auch das Lichtermeer eines nächtlichen Marktes. 

Diese Szenen und der immer mal märchenhafte Inszenierungsstil geraten deshalb nicht zu Schönfärberei und Ethno-Kitsch, weil Amitabh Reza Chowdhury und seine Drehbuchautoren Naseef Faruque Amin und Sharbari Z. Ahmed sich mit ebenso großem Engagement den Klassengegensätzen und Ungleichheiten widmen. Wenn reich gewordene Mittelschichtpaare arme Mädchen vom Land ausbeuten und Straßenkinder in unfertigen Hochhäusern übernachten, prallen die Widersprüche des wirtschaftlich aufstrebenden, aber immer noch armen Landes ungebremst aufeinander. Wie nebenbei thematisiert der magische Realismus der Inszenierung zudem die Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern, die Gegensätze zwischen Stadt und Land sowie die vibrierende Energie einer aus den Nähten platzenden Metropole wie Dhaka.

Seine naheliegende Botschaft formuliert das Coming-of-Age Drama, das 2021 beim Chemnitzer „Schlingel“-Festival den Hauptpreis der Spielfilmjury erhielt, in den Augen mancher Erwachsener wohl etwas zu direkt. Am kämpferischen Habitus der überzeugenden Hauptdarstellerin dürften sich hingegen Jung und Alt gleichermaßen erfreuen. 

Rikscha Girl (2021)

Naima würde ihrer Familie so gerne helfen. Sie ist eine talentierte Künstlerin und bemalt alles, was ihr unter die Finger kommt, mit fantasievollen Motiven. Geld kann sie damit aber kaum  verdienen. Als ihr Vater, ein Rikscha-Fahrer, schwer krank wird, steht die Familie vor dem finanziellen Ruin. Naima erkennt, dass es in ihrer kleinen Stadt keine Verdienstmöglichkeiten gibt und entschließt sich, ihre Familie zu verlassen, um in der Hauptstadt Dhaka Arbeit zu finden.

Sie wird von einem wohlhabenden Paar als Dienstmädchen eingestellt, ist von deren kühler Art und der schicken Wohnung aber so eingeschüchtert, dass sie flieht. Eine eigene Rikscha zu fahren,  ist ihr großer Traum. Doch der scheint unerfüllbar, da dies nur Männern erlaubt ist. Das mutige und entschlossene Mädchen sieht nur einen Ausweg: Es muss ein Junge werden. Naima nimmt  die Identität Naim an und wird ein erfolgreicher Rikscha-Fahrer. Besonders das selbst bemalte Gefährt ermöglicht Naima, ihren Eltern viel Geld zu schicken Die anderen Rikscha-Fahrer neiden ihr diesen Erfolg, und ihr Geheimnis droht, entdeckt zu werden.

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