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Viele Kinder, die in Venezuela aufwachsen, müssen hungern und ohne Eltern zurechtkommen. Auf den Straßen bekriegen sich Banden und auch die Polizei übt tödliche Gewalt aus. Der Dokumentarfilm schildert die Not in einem Armenviertel von Maracaibo, unter der vor allem die junge Generation leidet.

Das Land der verlorenen Kinder (2023)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Zum Betteln geschickt, um zu überleben

Wenn Kiaras Kinder Hunger haben, müssen sie in Maracaibo betteln gehen. Ihr Sohn Yorbenis hat eine Pistole und überfällt mit seinen Kumpels aus einer Jugendgang Menschen. In Venezuela leben, wie das Auswärtige Amt informiert, über 80 Prozent der Bevölkerung in Armut. Sieben Millionen Menschen, also ein Viertel der Einwohner*innen, haben diesen Angaben zufolge das Land im vergangenen Jahrzehnt verlassen. Die Not der Kinder, die nicht mitgenommen werden, ist groß. In einem Slumviertel von Maracaibo kümmert sich die Bewohnerin Carolina Leal mit ihrer Stiftung um obdachlose und verwaiste Kinder, organisiert Essen, versucht, sie von der Straße zu holen. Der Dokumentarfilm von Juan Camilo Cruz und Marc Wiese sammelt Eindrücke in einer Umgebung, in der schon die Jüngsten ums Überleben kämpfen.

Die alleinerziehende Kiara macht sich mit drei ihrer Kinder auf den Weg ins nahe Kolumbien. Dort kommt die schwangere Frau in einem Flüchtlingslager unter, wird mit ihren Kindern medizinisch untersucht und betreut. Der Teenager Yorbenis bleibt allein zurück. Die Familie kommt zwar wieder, weil es in Kolumbien nicht weiterging, aber Yorbenis wächst in den ständigen Krieg rivalisierender Banden hinein, könnte eines Nachts von der Polizei erschossen werden. Er betet, dass er 50 Jahre alt werden darf. „Ein Leben ist hier einen Dollar wert“, sagt Carolina Leal.

Um den Alltag in dieser Stadt filmisch zu dokumentieren, ohne von den Behörden überwacht zu werden, musste der Produzent Oliver Stoltz ungewöhnliche Wege gehen. Eine lokale Crew kam zum Einsatz und eine Jugendgang sorgte für die nötige Sicherheit beim Dreh. Stoltz hat für Das Land der verlorenen Kinder den von der Verwertungsgesellschaft der Film- und Fernsehproduzenten gestifteten Dokumentarfilm-Produktionspreis gewonnen, der auf dem DOK.fest München verliehen wird. 

Die Mädchen, die im von Ordensschwestern geführten Heim Casa Hogar unterkommen, leiden keinen Hunger. Aber dass ihre Eltern tot oder im Ausland sind und sie zurückgelassen haben, lastet ihnen schwer auf der Seele. Eine Psychologin steht ihnen zur Seite. Wenn sie die Schülerinnen auffordert, eine Familie zu zeichnen, fließen bald Tränen und die Mädchen öffnen sich ein Stück weit im Gespräch. Wenn die Kamera den Menschen in die armseligen Behausungen und auf die Straße folgt, wird sie Zeugin bedrückender und erschütternder Szenen. Carolina Leal spricht einem Mädchen Mut zu, den Großvater anzuzeigen, der sie sexuell missbraucht hat. Ein andermal kümmert sich die engagierte Frau um die Bestattung eines Neugeborenen, der der Familie von der Klinik in einem Sack übergeben wird. Es fehle im Krankenhaus sogar an OP-Handschuhen, um einen Kaiserschnitt durchzuführen, sagt Leal.

Der Film verlagert im Verlauf seinen thematischen Schwerpunkt zur Todesgefahr, die vor allem nachts in den Straßen herrscht. Yorbenis wird gefragt, was es für ihn bedeute, auf Menschen zu schießen. Ein Bandenboss erzählt, dass er mit 14 Jahren in die Fußstapfen seines Onkels treten musste. Auf dem Material einer Überwachungskamera ist eine nächtliche Schießerei auf offener Straße zu sehen. Wackelige Aufnahmen entstehen in einer Hausruine, während aus dem Off jemand erzählt, wie die Polizei hier einen Jugendlichen erschoss.

Die Beerdigung führt viele Menschen aus dem Viertel zusammen, es entstehen Momente, in denen die Minderjährigen die Solidarität der Erwachsenen spüren. Die vielen nachts gefilmten, zusammengestückelten Szenen sorgen vor allem für Krimiatmosphäre und sind eher verwirrend als aufschlussreich. Dass die Gewalt auf den Straßen viel zu viele Opfer fordert, vermitteln die Erzählungen der Protagonist*innen aber glaubhaft. Der aufwühlende Film wäre kaum zu ertragen, gäbe es nicht auch die Beispiele sozialen Engagements, die der Perspektivlosigkeit im Viertel trotzen und den Kindern ein wenig Hoffnung vermitteln.

Gesehen auf dem DOK.fest München 2024.

Das Land der verlorenen Kinder (2023)

Während Venezuela immer tiefer ins Chaos stürzt, sind Kinder besonders von der Not im Land betroffen. Millionen Minderjährige leben dort zurückgelassen oder als Waisen. Der Film erzählt von ihrer gewaltvollen Lebensrealität: er konfrontiert uns mit Kriminalität und Drogenmissbrauch, zeigt Kinder, die morden oder vor Hunger sterben. In Maracaibo kämpfen zwei Frauen auf unterschiedliche Weise gegen das Elend an: Während das Kinderheim von Carolina eine Oase inmitten von Gewalt und Entbehrungen ist, macht sich die alleinerziehende Kiara auf den beschwerlichen Weg nach Kolumbien, auf der Suche nach einem besseren Leben. (Quelle: DOK.fest München)

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