Ein neues Leben (2022)

Das böse Erwachen eines Jungen

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Merkwürdige Dinge gehen auf einmal im Leben Gadehas (Yessine Tormsi) vor. Ein fremder Fischhändler übernimmt die Kosten seiner Krankenhausbehandlung nach einem Unfall. Dann eröffnet ihm die Mutter (Dorsaf Ouertatani), dass sie jetzt bei diesem Mann und seiner Frau ein neues Zuhause bekommen. Angeblich sind Onkel Moez (Jamal Laroui) und Tante Malika (Chema Ben Chaabene) entfernte Verwandte des Vaters, der sich nach Europa abgesetzt hat. Aber Gadeha ist mit seinen zwölf Jahren zu groß, um an Geschichten mit Wohltätern zu glauben, die aus dem Nichts auftauchen. Statt sich über den Umzug in das bessere Stadtviertel zu freuen, die Geschenke, den schönen Garten und die Gesellschaft des elfjährigen Oussama (Ahmed Zakaria Chiboub), den er Bruder nennen soll, gibt sich Gadeha reserviert und misstrauisch.

Der Sohn des Fischhändlers muss sich nach einer erfolgreichen Nierentransplantation noch schonen. Oussama glaubt, die gespendete Niere stamme von einem Toten. Und Gadehas Mutter gibt ihrem Sohn keine weiteren Erklärungen zu den neuen Lebensumständen. Das tunesische Drama des Regisseurs Anis Lassoued bekam auf dem Kinder- und Jugendfilmfestival Schlingel 2022 den Hauptpreis der Sächsischen Landesmedienanstalt. Die aufwühlende Geschichte des jungen Gadeha konfrontiert ihr Publikum mit dem gewichtigen Thema des von Not und Armut begünstigten Organhandels in Tunesien.

Gadeha ist ein schweigsamer Junge. Seine Vorbehalte und offenen Fragen trägt er stumm mit sich herum. Yassine Tormsi spielt die Hauptrolle hervorragend, seine ungekünstelte Präsenz lässt Gadeha zur Identifikationsfigur werden. Sich zu erschließen, was er denkt und fühlt, erfordert die intensive Bereitschaft des Publikums zur Empathie, die der Figur aber auch gewissermaßen zufliegt. Das abenteuerliche Drama ist zugleich eine Coming-of-Age-Geschichte. Denn Gadeha findet natürlich die Wahrheit heraus, die ihn in eine tiefe Krise und in einen Konflikt mit der Mutter stürzt. Er muss das Bild, das er sich von den Eltern machte, revidieren. Besonders beeindruckt dabei die Auflösung, denn Gadeha werden die Augen auch für die Not anderer geöffnet.

So wie sich Gadeha in der neuen Umgebung selbst zurechtfinden muss, deutet auch der Film vieles nur an. Man weiß meistens nicht mehr als die Hauptfigur selbst. Lassoued inszeniert sehr realitätsnah, etwa indem er ungefiltert wiedergibt, wie sexistisch die pubertären Jungen über Mädchen und Frauen reden, ihnen auf der Straße hinterherrufen. Dass Gadeha schließlich offen gegen seine Mutter rebelliert, hat auch damit zu tun, wie Onkel Moaz ihre Autorität untergräbt. Plötzlich soll sie Gadeha nichts mehr zu sagen haben, nur noch er. Die untergeordnete Stellung der Frau in der Gesellschaft wird deutlich.

Wenn Gadeha den Garten erkundet, lieber durch die Straßen der Stadt streift, als einen Schultest zu schreiben, am Meeresstrand die halbstarken Freunde trifft oder sich abends verzweifelt in den Sand legt, erkundet er eigene Freiräume. Er will der Sohn seines Vaters sein, den er in seiner Sehnsucht lange idealisiert. Ohne ihn zu leben, kommt auch einer Beraubung gleich. Lassoued gelingt ein emotionaler Balanceakt, der nichts beschönigt und zugleich plakative Anklagen vermeidet. Es ist die fröhliche kleine Schwester, die Gadeha mit ihrem Lächeln zeigt, dass die Gegenwart nicht nur Kummer und Elend, sondern auch ein mildes Licht für ihn bereithält.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/ein-neues-leben-2022