Sturm

Ein Wettlauf gegen die Zeit und das Vergessen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die Monster sind unter uns – immer noch. Daran ändern auch spektakuläre Verhaftungen wie die von Radovan Karadzic nichts. Und das nichts dagegen spricht, dass das Monster sich nicht immer als solches zu erkennen gibt, das macht der Film gleich zu Beginn klar: Die Kamera begleitet eine Familie am Strand irgendwo in Südeuropa, alles wirkt ganz normal. Doch dann bei der Rückfahrt merkt man schnell, dass der Mann offensichtlich einiges zu verbergen hat. Immer wieder schaut er nervös in den Rückspiegel, registriert einen Wagen, der ihn verfolgt und hängt dann mit einem riskanten Wendemanöver die Beschatter ab. Als er und seine Frau dann aber in ihrem Feriendomizil schlafen, erfolgt der Zugriff: Eine Spezialeinheit stürmt die Wohnung und verhaftet den gesuchten bosnischen Serben und Kriegsverbrecher Goran Duric (Dražen Kühn). Als ihm drei Jahre später vor dem Haager Tribunal für Kriegsverbrechen der Prozess gemacht werden soll, ruhen die Hoffnungen der Ankläger rund um Hannah Maynard (Kerry Fox) auf den Aussagen von Alen Hajdarevic (Krešimir Mikić), der gesehen haben will, dass Duric Deportationen anordnete. Doch vor Gericht verstrickt sich der Zeuge der Anklage in Widersprüche und wird schließlich der Lüge überführt, woraufhin er sich erhängt.
Helen Maynard, gerade bei einer Beförderung übergangen und privat mit dem EU-Sonderbeauftragten für die Beitrittsverhandlungen der Balkanstaaten (Rolf Lassgård) liiert, steht ohne Zeugen da, der Prozess gegen Duric, der mittlerweile ein hohes politisches Amt in seiner Heimat, der Republika Srpska anstrebt, droht zu platzen. Bis Helen Maynard auf Mira Arendt (Anamaria Marinca) stößt, die mittlerweile mit einem Deutschen verheiratete Schwester Alens, die einiges über die Vorkommnisse zu wissen scheint. Doch die junge Frau will von den Gespenstern der Vergangenheit nichts wissen und verweigert zunächst die Zusammenarbeit mit der Chefanklägerin. Und als sie schließlich einwilligt, müssen sowohl sie als auch Helen feststellen, dass hinter den Kulissen längst Deals geschlossen wurden, um den leidigen Prozess gegen den Massenmörder und Massenvergewaltiger Duric möglichst schnell und reibungslos über die Bühne zu bringen.

Ganz sachlich, kühl und ohne jedes Pathos widmet sich Hans-Christan Schmid in seinem Film Sturm einem ebenso wichtigen wie erschreckenden Thema, das tatsächlich in nächster Zukunft in Vergessenheit zu geraten droht. 2010, so ist es beschlossen, wird das Internationale Kriegsverbrechertribunal für den Balkankrieg seine Arbeit einstellen, 45 Verfahren sind noch anhängig, die Arbeit der Ermittler und Ankläger ist ein Wettlauf gegen das Vergessen. Und gerade vor dem Hintergrund der Beitrittsverhandlungen der ehemaligen Beteiligten am Balkankonflikt laufen die Verfahren Gefahr, zu einer reinen Farce zu verkommen. Die unglaublichen Leiden der Zivilbevölkerung, die ethnischen Säuberungen und Massenvergewaltigungen – sie bleiben in vielen Fällen ungesühnt, da politische Interessen einer Aufklärung im Wege stehen.

Unaufdringlich und mit kühler Präzision schildert Schmid die Mühlen der internationalen Justiz, die gefangen zwischen politischen Interessen und juristischem Auftrag einen Kampf auf verlorenem Posten führt, bei dem die Opfer ihr schreckliches Trauma noch ein zweites Mal durchleben müssen, ohne dass ihnen am Ende Gerechtigkeit widerfährt. Auch wenn dies nicht immer so zwingend ist wie beispielsweise Jasmila Zbanics Aufarbeitung des Balkankriegs Grbavica, so wirft dieser leise Thriller doch ein bezeichnendes Schlaglicht auf die ungesühnten Gräuel der jüngsten europäischen Vergangenheit.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/sturm