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Der dritte Film der japanischen Regisseurin Riho Kudo zeigt eine Figur mit ungewöhnlicher Profession und erforscht so die Zusammenhänge zwischen Freundschaften und Erinnerungen.

August My Heaven (2024)

Eine Filmkritik von Mathis Raabe

Viele Leben, keine Freunde

Arbeit und Privates zu jonglieren, das fällt vielen Menschen schwer. Besonders kompliziert wird es, wenn der Job anderer Leute Privates ist. Joe (Yukino Murakami) bietet auch einen ungewöhnlichen Service an. Für ihre Klient*innen spielt sie die Rollen von Verwandten oder Freund*innen. Vor allem für soziale Situationen wird dieser Dienst in Anspruch genommen. Und es kann vorkommen, dass Joe auf der Straße von Leuten erkannt wird, die sie einmal in einer ihrer Rollen kennengelernt haben. Sie hat sich also viel zu merken, um nicht aufzufliegen. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sie am Ende des Monats die Stadt verlassen will. Ihren Kumpel Nampei (Shuri Suwa), mit dem sie nach Feierabend skatet und der vielleicht auch mehr sein könnte als ein Kumpel, macht das traurig.

Da sind sie: die sozialen Opfer, die die Professionalität fordert – ein Motiv, das man etwa aus Agentenfilmen kennt. In August My Heaven steht niemandes Leben auf dem Spiel. Dafür bedeuten aber Joes viele Leben, die sie sich beruflich überstreift, dass sie zwar scheinbar soziale Beziehungen hat, doch auch diese bald hinter sich lassen muss. Ausgerechnet bei einer Beerdigung wird Joe dann von jemandem erkannt. Ist Kaoru (Takuma Fujie) ein alter Freund, der von ihrem Job nichts weiß, oder doch der Freund eines alten Klienten? Auch Nampei und Kaoru kennen sich, wie sich herausstellt, nennen Joe aber bei unterschiedlichen Namen. Nur zwischen den Zeilen können wir die Vorgeschichte erahnen. Joe verstrickt sich tiefer im Lügennetz, bekommt aber auch eine Kostprobe von den Freundschaften, die sie haben könnte, würde sie sich für ein eigenes Leben entscheiden statt der vielen Rollen.

Verwaschenes Gitarrengeklimper begleitet einen Roadtrip der drei mysteriös Verbandelten. „Hier waren wir doch schon mal“, sagt Nampei. Es scheint fast, als müssten sich die Figuren ebenso wie das Publikum eine gemeinsame Vergangenheit rekonstruieren. Alltägliche Orte und Objekte sind durch diese Vergangenheit symbolisch aufgeladen. Eine kaputte Waschmaschine in einem Waschsalon wird zur Büchse der Pandora, ein Flugdrachen zum Symbol der Freundschaft. Und warum hat Joe vieles von dem bereits in einem Traum gesehen?

Joes viele Leben haben keine Kontinuität, sie existieren nur in den Momenten, in denen sie auf andere trifft. Mit der Zeit und den Abläufen spielt dementsprechend auch die Inszenierung des Films. Regisseurin Riho Kudo setzt etwa an entscheidender Stelle einen Anschlussfehler ein: Beim Betreten eines Tunnels ist noch Nacht, am anderen Ende aber bereits hell. Kudo erweist sich so als ambitionierte Jungfilmemacherin, die man unbedingt auf dem Zettel haben sollte: Schon ihr Debüt- sowie Abschlussfilm Orphan’s Blues (2018) arbeitete ebenfalls mit Roadmovie-Elementen und beschäftigte sich anhand einer Figur, die unter Gedächtnisverlust leidet, mit dem Rekonstruieren von Vergangenheit.

August My Heaven dauert nur 40 Minuten und wurde deshalb von der Berlinale mit Kiyoshi Kurosawas ebenfalls mittellangem Chime zusammen programmiert, den dieselbe Produktionsfirma verantwortet hat. Kudos Film kommt aber wie eine erzählerische Versuchsanordnung daher, die mehr Zeit auch nicht braucht, um ihr Ergebnis zutage zu fördern: Tiefe soziale Verbindungen haben oft mit einer gemeinsamen Vergangenheit zu tun, können schwer nur im Moment bestehen. Würden alle Filmstudios so arbeiten – die Dauer wählen, die der jeweilige Stoff braucht, auch wenn die kommerzielle Kinoauswertung das Neunzig-Minuten-Format bevorzugt –, dann dürfte man noch viel häufiger Filme mittlerer Länge sehen.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

August My Heaven (2024)

Joe verdient ihr Geld damit, als Ersatzverwandte, -liebhaberin oder -freundin ihrer Kund*innen an Feierlichkeiten und Zusammenkünften teilzunehmen. Nanpei arbeitet in einem chinesischen Restaurant und ist in Joe verliebt, die dort öfter zu Besuch ist. Eines Tages im August nimmt Joe als Ersatztrauergast an einer Beerdigung teil und sieht dort Kaoru, den sie nicht kennt, der ihr aber im Traum erschienen ist. Nach der Beerdigung besucht Kaoru Nanpei in ihrem Restaurant. Er war einmal Nanpeis bester Freund, dann galt er fünf Jahre lang als vermisst. Kurz darauf betritt Joe das Restaurant. So beginnt eine kurze gemeinsame Reise. (Quelle: Berlinale)

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