Leviathan (2014)

Die Verzweifelten des Polarkreises

Eine Filmkritik von Festivalkritik Cannes 2014 von Joachim Kurz

Wie ein Maschinengewehr rattert die Richterin die Entscheidung herunter, die sie soeben gefällt hat. Als wolle sie die Prozedur so schnell wie möglich hinter sich bringen, als sei ihr der ganze Amtsakt selbst ein wenig peinlich oder als wolle sie jede Pause als Gelegenheit eines Einspruchs um jeden Preis verhindern, spuckt sie die Sätze förmlich heraus, so schnell, dass die Untertitel am unteren Bildrand Schlag auf Schlag folgen, obwohl wahrscheinlich die Hälfte der Worte weggelassen wurden. Später, am Ende des Filmes, wird es eine ganz ähnliche Szene geben, da wird zwar ein anderer Fall verhandelt, doch es ist der gleiche Mann wie in der ersten Szene, der hier der Leidtragende des Urteilspruches sein wird. Und zwischendrin ist viel passiert, hat sich das Leben des Betroffenen radikal auf den Kopf gestellt, hat er alles verloren, was ihm einst lieb und teuer war.
Kolia (Alexei Serebriakov) heißt dieser Mann, dessen Abstieg Andrey Zviagintsev Wettbewerbsbeitrag Leviathan beschreibt. Er lebt gemeinsam mit seiner Frau Lilya und seinem Sohn Roma (Sergey Pokhodäv) an der Barentssee am Rande des Arktischen Ozeans in einem wundervollen Haus mit Blick auf eine malerische Bucht. Hier befindet sich in einem Schuppen, die kleine Autowerkstatt, die er betreibt. Doch die Idylle täuscht, denn der durch und durch korrupte Bürgermeister des Ortes möchte genau auf diesem Grundstück einen Palast für sich selbst errichten. Und wenn sich dieser machtbewusste Mann etwas in den Kopf gesetzt hat, dann bekommt er das auch. Um gegen die bevorstehende Enteignung durch ein Gericht vorzugehen, ist Dmitri (Vladimir Vdovitchenkov) Kolias bester Freund aus Armeezeiten hoch in den Norden gefahren, denn als Anwalt kennt er sich aus mit Verfahren wie diesem. Doch der Bürgermeister und seine Kumpanen haben sehr viel mehr Macht, als Kolia und Dmitri ahnen. Und dann entwickelt sich zwischen Lilya und Dmitri eine Affäre, die schließlich alles in Bewegung versetzt und eine Tragödie heraufbeschwört.

So tragisch sich das Geschehen auch anhört, gibt die reine Nacherzählung des Films nur einen ungenügenden Eindruck von den vielen verschiedenen Facetten und dem ganz eigenen Tonfall des Films. Leviathan ist Tragödie und Parabel, er vereinigt dunkelsten Humor und messerscharfe Analyse einer Gesellschaft am Rande der Auflösung, in der Männer wie Kolia, die sich den Autoritäten in den Weg stellen, nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren haben. Souverän beobachtet der Film zeitgleich die Ehe zwischen Kolia und Lilya, widmet sich den Problemen des heranwachsenden Roma, beschreibt Machtverhältnisse und Abhängigkeiten und treibt seine nur am Ende etwas lang geratene Geschichte ohne spürbare Hänger voran. Manchmal beinahe banal und von brutaler Unmittelbarkeit, schwingt sich der Film mit seinen schwelgerischen Naturbildern und Zviangintsevs Gespür für Atmosphäre und Bildkomposition in philosophische und technologische Höhen auf, die gleichzeitig ganz natürlich wirken - gerade so, als würde vor dieser unglaublichen Landschaft, in der sich die Geschichte abspielt, zwangsläufig jede Handlung, jedes Agieren der Menschen zu einem Gleichnis werden. So als wären die Menschen hier am Nordrand des Kontinents Spielbälle der Natur und höherer Kräfte. Ähnliche Beobachtungen über die Schicksalhaftigkeit der menschlichen Existenz trifft man des Öfteren im skandinavischen Kino an.

Auch in Matthias Glasners Film Gnade war eine ähnliche symbolische Aufladung der kargen arktischen Natur zu sehen, der russische Regisseur aber treibt diesen Ansatz viel weiter, setzt machtvolle Metaphern wie das Skelett eines Wales mitten hinein in seine Bilder und malt so Tableaus und Panoramen von teilweiser beglückender und atemlos machender Schönheit. Ob das freilich für den Gewinn der Goldenen Palme reicht, wissen wir erst morgen, als heißer Kandidat für den Regiepreis könnte ich mir Zviagintsev durchaus vorstellen - neben Naomi Kawase. Und bezeichnenderweise haben beide Filme einige Gemeinsamkeiten sowohl ästhetischer als auch inhaltlicher Natur. Ob man den einen oder der anderen eher vorzieht, hängt wohl im Wesentlichen davon ab, ob man Kawases durchgehende ernsthafter Narration oder Zviagintsevs facettenreicherem Wechsel der Stimmungen den Vorzug gibt. Je länger ich darüber nachdenke, umso mehr bevorzuge ich den multiperspektivischeren Ansatz des Russen, der sein Welttheater so atemberaubend in die Landschaft setzt, wie man das in dieser Form nur selten sieht.

(Festivalkritik Cannes 2014 von Joachim Kurz)

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/leviathan-2014