Architecton (2024)

Film als Textur

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Wie wollen wir morgen leben? Häuser aus Stein sind heute Beton. Regisseur Victor Kossakovsky – der zuletzt mit seinem Tierdokumentarfilm „Gunda“ (2020) Erfolg feierte – präsentiert eine als dokumentarische Form verpackte Meditation aus einstürzenden Altbauten, Lawinen aus Geröll und immer kleiner werdenden Steinpartikeln. Dazwischen führt Architekt Michele De Lucchi einige der vorher nur abstrakt formulierten Gedanken ins Konkrete. Das Publikum begleitet De Lucchi beim landschaftsgärtnerischen Projekt: ein Kreis aus Steinen. Das Wort „Architecton“ kann in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen haben, im Kern beschreibt es aber immer ein System in seiner Ganzheitlichkeit, bei Kossakovsky wird eine Methode der Kritik. 

Steine vibrieren, fallen, scheinen zu schweben. In all dieser Ekstase verliert man Bezugspunkte, oben und unten gehen verloren, die Leinwand wird eine einzige Textur, die man mehr als staunend auf sich wirken lässt. Die Erhabenheit des „Großen“ wird anhand von immer kleiner werdenden Steinen aufgebrochen. Der Film hebt sich vom reinen Blickfang ab. Sobald man sich in einem filmischen Experiment wohlfühlt, beginnt die nächste Drehung. Sprengungen von Bergen ertönen wie Jumpscares aus dem Nichts. Begleitet von Evegueni Galperines ausgezeichneter Filmmusik, sinkt man stetig tiefer in die hypnotischen Bewegungen. Galperines Filmklänge schwingen dabei irgendwo zwischen Philip Glass, Jóhann Jóhannsson und Wendy Carlos. Spätestens wenn Klangwelt und Soundtrack nicht mehr voneinander zu trennen sind, wird auch die Musik zum Teil der Textur.

Und da sieht man plötzlich einen kleinen Roboter, der gleichförmig, aber vollkommen unpräzise den noch flüssigen Beton auftürmt und Mauern formt. Desillusioniert fühlt man sich nach all der Schönheit, die man gesehen hat. Regisseur Kossakovsky ist in solchen Moment parteiisch; sein Dokumentarfilm will überzeugen und im Kontrast eines beinahe kantischen Begriffes des Schönen in der Natur, den Rückschluss auf die Hässlichkeit der modernen Häuser schließen.

Andere Aufnahmen zeigen mühsame Handarbeit, kalte Mechanik von Maschinen oder Flüge durch unberührte Natur. Steine fallen aufeinander, Staub ist in der Luft, beinahe spürt man die Haut auf seinen Fingerkuppen abreiben. Doch der Film fängt nicht bloß Arbeitspornografie ein, in der hochoptimierte Prozesse gefeiert werden, vielmehr werden menschliche, maschinelle und weltliche Werke gegeneinandergestellt. Knochenarbeit wird komplimentiert, mit einer Totalen auf ein Kunstwerk, von der Natur erschaffen – dem Menschen meilenweit voraus.

Der Experimentalfilm Last Things (2023) von Deborah Stratman, welcher im Vorjahr auf der Berlinale zu sehen war, lässt den Stein als Subjekt durch die Zeit reisen und in Farbe leuchten. Architecton ist traditioneller, jedoch wesentlich mitreißender. Beide lassen Textur zum Protagonisten der Filme werden. Möchte man die architekturellen Landschaften nach den 94 Minuten noch nicht verlassen, empfiehlt sich der Film Last and First Men (2020). Was in Kossakovskys Film visueller Diskurs ist, ist bei letzterem, die Mystik: von einer post-apokalyptischen Stimme getrieben, wird rückblickend auf surreale menschliche Überbleibsel geblickt. Die Filme verbindet: Überspitzte – bis ins Sublime reichende – Bauten, Gebilde und Berge, die in ihrer Aufzeichnung nahezu begehbar werden.

Zum Schluss wird es noch einmal still. Der Kreis im Garten von Michele De Lucchi ist mittlerweile eine wildwachsende Insel geworden. Da taucht Regisseur Kossakovsky selbst im Bild auf. Er redet mit De Lucchi über den Stand der Architektur heute, Gentrifizierung, Beton als „totes Material“ und Wolkenkratzer, die wie aus dem Schaufenster nebeneinanderstehen. Zu diesem Zeitpunkt haben die brachialen Bilder bereits ihre Überzeugungsarbeit geleistet und man hört jedem Wort aufmerksam zu. Zwischen den Zeilen wird deutlich, was die ursprüngliche Intention hinter Architection ist: Kritik am Zeitgeist.

Was bleibt, ist das Gefühl, etwas erlebt zu haben, was man noch nie gesehen hat. Unter den Bildern liegt eine klare Position: gegen den modernen Häuserbau – wohin weiß man aber nicht so recht, gesucht wird die richtige Progressivität. Auf der Premiere in Berlin richtet sich der Regisseur prompt zum Publikum und zur Festivalleitung und insistiert: „Dokumentarfilme sind kein Journalismus, Dokumentarfilme sind Kino!“. Applaus.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/architecton-2024