The Holdovers (2023)

Ein Teller warme Suppe

Eine Filmkritik von Mathis Raabe

Alexander Payne ist milde geworden. Als am Ende seines 1999er Films „Election“ ein Lehrer, gespielt von Matthew Broderick, seinen Job verloren hat und die Stadt verlässt, da ist das eine jämmerliche, selbstgerechte Figur – auch wenn es auf der Tonebene anders klingt. Den ganzen Film über setzt Payne innere Monologe als satirisches Element ein. Die Wertvorstellungen, die die Figuren formulieren, passen mit ihrem Handeln nicht zusammen. Als dagegen am Ende von „The Holdovers“ ein von Paul Giamatti gespielter Lehrer seine Anstellung aufgibt und die Stadt verlässt, da ist es eine ehemals jämmerliche Figur – nach ganz klassischer Erzähltechnik ist sie (dem Publikum ans Herz) gewachsen.

Genau genommen war Alexander Payne auch früher schon milde. Seine frühere Zusammenarbeit mit Giamatti – Sideways – zeigt den Roadtrip zweier Männer, die auf unterschiedliche Weise ihre Midlife-Crisis zu bewältigen versuchen. Im Vergleich zum bissigen Election wirkt dieser Oscar-prämierte und hochgelobte Film geradezu lieblich. Und auch The Holdovers ist ein lieblicher Film, passend zu seinem Setting Weihnachten – und nicht der erste Film, der sich gerade für diejenigen als Feiertagsprogramm anbietet, die keine unversehrte Familie zum Besuchen haben. Jedoch wirkt die Lieblichkeit hier auf besondere Weise.

Paul Hunham (Giamatti) ist ein Mann, der noch häufiger ans Römische Reich denkt als die Männer, die auf TikTok danach gefragt werden: An einer elitären Privatschule in Neuengland lehrt er in den Siebzigerjahren die Geschichte des Altertums, aber auch seine Vorstellungen von Anstand und Strebsamkeit. Er ist ein Typ, wie man ihn vielleicht aus seiner eigenen Schulzeit wiedererkennt: Pullunder tragend, mit kranzförmigem Haarrestbestand, und so spießig, streng und spaßfeindlich, dass man bald vermutet, es müsse sich um nach außen projizierten Selbsthass handeln.

Man kann ihn von der Leinwand riechen, diesen Mann, dem Payne auch noch mehrere Krankheiten auf den Leib schreibt, die wenig gefährlich sind, ihn aber noch eigentümlicher machen sollen. Ohne allzu großen Widerwillen übernimmt Hunham die Aufgabe, während der Weihnachtsfeiertage die Schüler zu betreuen, die nicht in ein trautes Heim fahren. Denn er verlässt die Schule eh ungern. Die alten Gewölbe sind für ihn ein Zufluchtsort. Nur hier ist er jemand – oder kann sich das zumindest einreden.

Die einzige Schulangestellte, die mit ihm verbleibt, ist die Köchin Mary (Da’Vine Joy Randolph), die gerade durch den Vietnamkrieg ihren Sohn verloren hat. Von den Schülern verbleibt schließlich nur noch Angus (Dominic Sessa), dessen Mutter damit beschäftigt ist, einen neuen Typen zu heiraten.

Während diese drei sehr unterschiedlichen Einsamen nun zwangsläufig aufeinander sitzen, fallen die Fassaden und Verhaltenskodizes bald in sich zusammen. Bei Ausflügen, etwa in eine Kneipe und zur Party einer Kollegin, weichen sie auf, scheinen dort gar leichter Zugang zur Welt zu finden als im mattglänzenden Setting der Lehranstalt und werden zu einer Art Krisengemeinschaft. Zu blauäugig ist das Drehbuch dabei nicht: Natürlich können Angus und Hunham nicht wirklich nachvollziehen, wie sich der Verlust des Sohnes für Mary anfühlen muss. Aber sie können mit ihr zusammen zu Abend essen und dabei unbeholfene Gespräche führen. Immerhin.

„Ein Film, wie er heutzutage nicht mehr oft gemacht wird“, steht sinngemäß in vielen Kritiken. Ist es tatsächlich bloß Nostalgie nach einer bestimmten Art US-Indiekino, durch die der Film verzaubert? Die Sehnsucht nach einer simplen „Wenn-wir-nur-alle-nett-zueinander-wären“-Botschaft? Die anstrengenden Analysen – dass Marys toter Sohn mit US-Außenpolitik zu tun hat und die Kälte der Eltern der Jugendlichen mit ihrem Reichtum, und dass allen Figuren wahrscheinlich eine Therapie guttun würde – spart der Film aus.

Aber diese Schneekugelwelt hat einen doppelten Boden. The Holdovers porträtiert eine Zeit des Stillstands in der US-Geschichte, in der im Subtext der Heimeligkeit auch eine Ohnmacht mitschwingt: Die 68er-Proteste sind vorbei, aber die US-Armee ist noch immer in Vietnam, Martin Luther King ist tot und in Präsident Richard Nixon brauchen weder die Kriegsgegner noch die Schwarze Bürgerrechtsbewegung große Hoffnungen zu setzen.

Der Film erinnert sich damit auch an die Zeit von New Hollywood und verbreitet zugleich selbst durch seine Form wenig Aufbruchstimmung. Aber Alexander Payne ist auch nicht die Person, die man mit der Hoffnung beladen sollte, das Kino in die Zukunft zu tragen. Eher noch sollte man ihn einen Streber schimpfen: Sein Siebzigerjahre-Setting kommt nicht als Cosplay daher, das nur durch Locations und Kostüme das Publikum aus seiner Zeit lösen will.

Die Kamerabewegungen, der Schnittrhythmus, die Wischblenden, die Payne verwendet, wollen eher den Eindruck erwecken, jemand hätte beim Entrümpeln eines Studiokellers eine alte Filmrolle gefunden. Zweifellos biedert sich Payne damit bei einem cinephilen Publikum an. Aber er tut das gekonnt und konsequent; nie wirkt es wie ein Taschenspielertrick. Paul Giamattis Stil ist ohnehin der eines Charakterdarstellers aus den Siebzigerjahren – niemand hätte besser in diesen Film gepasst.

The Holdovers will keine Revolution sein, sondern ein Teller warme Suppe nach dem verlorenen Kampf, in die man noch ein bisschen hineinblutet und hineinweint und sie dann trotzdem isst.

 

 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/the-holdovers-2023