Stepne (2023)

Eine Landschaft der Trauer

Eine Filmkritik von Sebastian Seidler

Anatoliy (Oleksandr Maksiakov) kehrt in seine Heimat, in die winterlich-unwirtliche ukrainische Einöde zurück. Die Mutter ist schwerkrank, ihre Erinnerung erlischt. Bald schon erkennt sie den eigenen Sohn nicht mehr, der wiederum verzweifelt versucht, seinen Bruder von der Dringlichkeit eines Besuchs zu überzeugen. Der Alltag in der kargen Landschaft ist beschwerlich, die Bewohner des Dorfes alt und arm. Einmal die Woche kommt ein Auto mit einer Lebensmittellieferung, bringt Glühbirnen und Zigaretten.

Die Zeit scheint hier stehen geblieben zu sein, erstarrt oder gar erfroren. Die Menschen des Dorfes wirken wie die Überlebenden einer sowjetischen Vergangenheit, die sie niemals losgelassen hat: Die Geschichte hat sie längst abgehängt.

Schließlich verstirbt die Mutter. Gemeinsam mit seinem endlich angereisten Bruder, muss Anatoliy nun Abschied nehmen: Wenngleich dem Tod das Vergangene egal ist, brechen beim kargen Leichenschmaus mit dem halben Dorf alte Geschichten aus den Menschen heraus.  Sie erzählen von den Umbrüchen, den politischen Spannungen, von Kälte und Hunger. Das harte Leben hat die Gesichter geschnitzt und viele kennen das Glück nur aus den schwermütigen Liedern und als trostspendendes Glas Wodka.

Der gegenwärtige Krieg, den Russland in die Ukraine getragen hat, wird nicht direkt zum Thema gemacht. Dennoch ist Stepne der Erforschung alter Seelen gleich, ein Eintauchen in das immer schon komplizierte Verhältnis dieser beiden Staaten. Um eine politische Position geht es der Regisseurin nicht. Vielmehr um das Erspüren einer Eigenzeit, die sich selbst überlebt hat.  

Maryna Vrodas Debüt ist eine markerschütternde, karg-melancholische Zeremonie des Abschieds. Es passiert im Grunde kaum etwas. Das Haus wird ausgeräumt. Eine Lösung für das Grundstück wird gesucht. Und schließlich muss man einen Grabstein zur letzten Ruhestätte der Mutter bringen. All das wird in einer elegischen Ruhe erzählt, die man aus dem sogenannten Slow Cinema kennt. Doch sollte man sich hüten, allzu schnell die großen Namen als Referenz heranzuziehen: Oftmals haben die Regisseur*Innen weniger gemein, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Vroda gibt ihren Bildern eine Eigenzeit. Die Atmosphäre wird Landschaft, die Landschaft ein Ebenbild der Seele und die Zeit ein knochiger, vom Frost geschundener Baum: Eindrücklich und zutiefst ergreifend.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/stepne-2023