Meine Stunden mit Leo (2022)

Sexuelle Erfüllung in vier Akten

Eine Filmkritik von Falk Straub

Von anspruchsvollen Literaturadaptionen bis hin zu unterhaltsamem Popcornkino hat Emma Thompson alles gespielt. Keine Rolle hat sie dabei so gefordert wie die in Sophie Hydes neuem Film. Ein Kammerspiel über Lust, Lebenslügen und die heilende Kraft der Sexualität.

Eine Frau bezieht ein Hotelzimmer, ein Mann verlässt ein Café. Ihr Blick ist unsicher, sein Gang selbstsicher. Während sie ein wenig verloren ihre Unterkunft erkundet, prüft er sein Äußeres im Vorbeigehen in einer Schaufensterscheibe. Ein Popsong spielt bittersüß dazu. Die Credits laufen. Einen in die Luft geworfenen Drops fängt er lässig mit dem Mund wieder auf. Jede seiner Gesten ist bedacht, elegant und sexy. Alles an ihr wirkt bieder und verklemmt. Am Ende dieser fein montierten Titelsequenz klopft er an ihre Tür – und eine wunderschöne Tragikomödie nimmt ihren Lauf.

Emma Thompson, 63 Jahre, Mutter zweier Kinder, spielt Nancy Stokes, um die 60 Jahre, Mutter zweier Kinder, im Gegensatz zu Thompson jedoch keine weltbekannte Schauspielerin, sondern pensionierte Religions- und Ethiklehrerin und seit nunmehr zwei Jahren verwitwet. Nach dem Tod ihres Mannes hätte Nancy ausreichend Gelegenheit gehabt, einen neuen Mann in ihrem Alter zu finden. Doch an alten Männern ist sie nicht interessiert. Sie will einen jungen Mann mit einem knackigen Körper. Dass sie dafür bezahlen muss, dessen ist sie sich bewusst und dazu ist sie nach reiflicher Überlegung nun endlich auch bereit. Hier kommt der Mann aus der Titelsequenz ins Spiel.

Daryl McCormack, 30 Jahre, stattliche 1,88 Meter groß, spielt Leo Grande, um die 30 Jahre, stattliche 1,88 Meter groß, im Gegensatz zu McCormack jedoch kein aufstrebender Schauspieler, sondern ein Sexarbeiter, der seinen Beruf liebt. Nancy hat ihn gebucht, um all das im Bett auszuprobieren, was sie mit ihrem Mann nicht ausprobieren konnte. Und weil sie die Lehrerin in sich auch im Pensionsalter nicht ablegen kann, hat sie eine Liste mitgebracht, die es abzuarbeiten gilt. Leo nimmt es mit Humor, wie Sophie Hydes Film sich seinem expliziten Thema überhaupt mit Charme und Augenzwinkern nähert.

Geschrieben hat ihn Katy Brand, die vornehmlich als Komikerin und Schauspielerin unterwegs ist. Die Handlung hat Brand wie ein Theaterstück mit vier Akten angelegt. Viermal bucht Nancy Leo, viermal kommen sich die zwei körperlich und zwischenmenschlich näher und loten ihre Grenzen aus, bis dabei einmal etwas zerbricht, das auf den ersten Blick nicht mehr gekittet werden kann. Am Ende kommt es dennoch anders, weil Nancy zu erstaunlicher Einsicht fähig ist.

Geht es nach Regisseurin Sophie Hyde, dann ist ihr Film ganz einfach: „Zwei Schauspieler in einem Raum erforschen Intimität, Verbundenheit, Sex, Frustration und wechselnde Machtdynamik.“ Was sich so einfach anhört, war harte Arbeit. In nur 19 Tagen gedreht, erforderte der Film im Vorfeld nicht nur umfängliche Problem, sondern auch ungewöhnliche Methoden, um Hemmschwellen abzubauen und die dargestellte Intimität glaubwürdig erscheinen zu lassen. In verschiedenen Interviews gab Emma Thompson zu Protokoll, dass sie, ihr Schauspielkollege Daryl McCormack und die Regisseurin während der Proben sich nach und nach ihrer Kleidung entledigten, um sich schließlich völlig nackt mit ihren Körpern vertraut zu machen und darüber zu sprechen, was ihnen daran ge- und missfalle. Denn auch darum geht es in diesem Film, um „unsere Scham, unsere Fehlkommunikation, unsere sexuellen Verbindungen und Frustrationen“, sagt Hyde. Und um Konstrukte. Leos Körper, die Art, wie er sich kleidet, sich bewegt und spricht, ist eines davon: eine schöne Fassade, hinter der noch etwas anderes schlummert. 

Meine Stunden mit Leo bietet weit mehr als unterhaltsame 96 Minuten über eine alte Jungfer, die es noch einmal wissen will. Sophie Hyde ist das kleine Kunststück geglückt, einen Film über Lust, Lebenslügen und die heilende Wirkung von Sex zu drehen, der zu gleichen Teilen amüsiert, nachdenklich und versöhnlich stimmt und dabei ungemein sexy ist. Die von ihr angesprochene Fehlkommunikation besteht darin, sich die eigene Lust nicht eingestehen zu wollen oder, hat man sie sich endlich eingestanden, sich nicht zu trauen, sie mit jemand anderem zu teilen. Was wiederum mit der Scham zu tun hat, die Thompson während der Pressekonferenz bei der Berlinale, wo der Film nach seiner Weltpremiere beim Sundance Film Festival in der Sektion „Berlinale Special“ zu sehen war, wie folgt auf den Punkt brachte: „Das ist das Problem, nicht wahr, dass Frauen ihr ganzes Leben lang einer Gehirnwäsche unterzogen wurden, ihre Körper zu hassen.“

Nackt vor dem Spiegel zu stehen, ohne dabei den Bauch einzuziehen, den Körper zur Seite zu drehen oder sonst irgendwie in ein gutes Licht zu rücken, wie es ihre Figur Nancy tut, sei denn auch das Schwerste gewesen, das sie in ihrer Schauspielkarriere je vollbringen musste, sagte Thompson. Wie alles in diesem Film meistert sie auch diese Szene mit Bravour. Und auch von ihrem Filmpartner Daryl McCormack, bei dem jede Nuance sitzt, wird künftig noch zu hören sein. 

Am Ende ist Nancy mit sich und ihrem Körper zufrieden – und entlässt ein zufriedenes Publikum aus dem Kinosaal. 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/meine-stunden-mit-leo-2022