Soul of a Beast (2021)

Risse im Universum

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Beste Regie, Schauspielpreis, Preis der Filmkritik beim Max Ophüls Preis Saarbrücken – kein anderer Film des Wettbewerbs hätte diese Auszeichnungen mehr verdient. "Soul of a Beast" ist, von der reinen Handlung her, ein Coming of Age-Drama um den 18jährigen Gabriel, ein junger, alleinerziehender Vater, der sich in die Freundin seines besten Freundes verliebt und zugleich fürchten muss, dass die Etepetete-Familie seiner Ex – und Mutter von Sohn Jamie – ihm den Jungen wegnimmt. Von der inszenatorischen Ausgestaltung her allerdings ist "Soul of a Beast" eine Ausnahmeerscheinung, ein Fest für die Sinne, ein Trip ins Ungewisse, eine allumfassende Symphonie des Untergangs.

Gabriel lebt so frei es geht mit einem zweijährigen Sohn – und sieht sich gefangen in einem zweifachen Melodram: Er muss um sein Kind kämpfen, er muss um seine Liebe kämpfen: Er muss sich seiner Vergangenheit entziehen, die ihn festhält, und will seine Zukunft ergreifen, die sich ihm entzieht. Regisseur Lorenz Merz lässt aus diesem Individualdrama ganz große Oper werden, in der sich Bilder mit der Geräuschkulisse, das Sprachengewirr von Zürich mit hochdeutsch und schwyzerdütsch, französisch und englisch mit der Vielfalt der Musik verbinden, von tragischem Blues bis leichtem Sommersound, und dazwischen elegische Gesänge und ein östlich-meditativ-psychedelisches Querflötenaperçu. Das Licht wirft starke Farben und starke Schatten, die Kamera ist dynamisch bewegt, wie auch die Protagonisten, die sich durch die Straßen Zürichs bewegen, wo sich das Leben abspielt, von dem sie ein gutes Stück abhaben wollen.

Gabriel kümmert sich liebevoll und spielerisch um seinen Jamie, sie bilden eine starke Familiengemeinschaft. Und es zieht ihn raus, zum Freund Joel (Tonatiuh Radzi), bei dem er Corry kennenlernt (Ella Rumpf), die ihn in ihren Bann zieht. Sie hängen gemeinsam rum, Corry hat Meskalin dabei, nachts brechen sie in den Zoo ein, Tiger und Löwen hinter Gittern, ein Pfau, Giraffen – ein Bilderrausch, der den Zuschauer mitreißt. Am nächsten Tag in den Nachrichten: Ein Ausbruch aus dem Zoo, Pumas und Giraffe sind entkommen – auch Zootiere sind Wildtiere!

Vor diesem Hintergrund entfaltet der Film sein raffiniertes, faszinierendes Spiel im Zwischenreich von harter Realität und freier Fantasy, von Diesseits und Jenseits. Die Hand vor den Augen zur Faust geballt lässt Passanten verschwinden, aus Zeigefinger und Daumen eine Pistole geformt lässt einen Idioten umkippen. Im Wald performen Gabriel und Corry als anmutige Raubkatzen, im Gebüsch in voller Tarnung ein Scharfschütze. Corry, auf dem Sprung nach Guatemala, führt Gabriel und Jamie ins paradiesische Reich eines Gartens, das ist vielleicht schon der Dschungel.

Rabiat werden in der Stadt Ausgangssperren verhängt, die Pumas sind gefährlich (gedreht wurde 2017, lange vor Corona-Lockdowns!); auf der Straße formiert sich Protest, es ist eine große Freiluftparty und zugleich sind dies Barrikadenkämpfe gegen eine martialische Staatsmacht – zwischendrin sucht Gabriel seine Corry, sie winden sich durch die Menge, gedreht wurde inmitten einer wirklichen Demo mit wirklichen brennenden Autos und Tränengas. So bindet Merz seinen Film stets an die Wirklichkeit, und stets stilisiert er ihn zu etwas Höherem, zu einem ästhetischen Erlebnis und zu einer allgemeinen Wahrheit.

Nicht zuletzt verknüpft Merz sein Werk stark im japanischen Kino; nicht nur durch einen japanischen Erzähler, nicht nur, indem ein Mikrowellenherd verschwindet und einem Samuraischwert Platz macht. Auch durch die ästhetische Überhöhung, durch die stringente Verdichtung, die wir aus dem asiatischen Kino kennen (als Meister davon: Sion Sono). Jedes Handeln ist zugleich Ritual, der Alltag wird zur schamanischen Zeremonie, die inneren Totemtiere müssen erforscht werden: Ergreifend die Sterbeszene der dem Zoo entkommenen Giraffe, die der Initiation Gabriels zugeordnet ist.

„Mit 18 erlebte ich fast zeitgleich die überwältigende Geburt meines Sohnes und den Tod meiner Freunde“, sagt Regisseur Lorenz Merz: „In beiden Momenten öffnete sich eine rohe Wahrnehmung der Welt – als würde ich einen Blick durch einen plötzlichen Riss im leeren blauen Himmel erhaschen können.“ In Soul of a Beast zeigt er als überwältigendes Kinoerlebnis, wie sich Risse auftun, wie die Welt in Stücke fällt; die Laufbahnen der Gestirne haben sich umgekehrt. In der Anfangsszene rast Joel mit dem Motorrad durch die Stadt, hintendran hält sich Gabriel auf dem Skatebord an der Maschine fest, und der größte Kick ist, bei roter Ampel mit geschlossenen Augen durch den Querverkehr zu schlängeln – Soul of a Beast nimmt den Zuschauer auf einen ähnlichen potentiell zerstörerischen, rauschhaft faszinierenden, grenzüberschreitend sinnlichen Ritt mit.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/soul-of-a-beast-2021