Sundown - Geheimnisse in Acapulco (2021)

Ein Platz an der Sonne

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Neil (Tim Roth) verbringt mit seiner Schwester Alice (Charlotte Gainsbourg) und ihren zwei erwachsenen Kindern einen Luxusurlaub in Acapulco. Die Stimmung ist entspannt, bis Alice einen Anruf aus London bekommt und man ihr mitteilt, dass ihre Mutter gestorben sei. Sofort packen alle zusammen und eilen zum Flughafen. Beim Check-in bemerkt Neil aber, dass er seinen Pass offenbar im Hotel hat liegen lassen. Mit dem Versprechen, den anderen sobald als möglich nachzureisen, verabschiedet er sich.

Michel Franco bemüht sich in Sundown erst gar nicht, einen in diesem Punkt lange auf die Folter zu spannen. Neil hat gelogen. Er geht nicht zurück ins Resort, sondern lässt sich bei irgend einem anderen, weit weniger luxuriösen Hotel, absetzen – den besagten Pass hat er im Koffer. Und auch sonst gibt es in diesem Film der leisen Töne keine wirklichen Geheimnisse, die auf ihre Enthüllung warten. Was wir sehen, ist, was tatsächlich passiert. Es ist diese Klarheit, die den Film umso spannender macht. Es gibt hier weder Opfer noch Helden, nur Individuen mit unterschiedlichen Erwartungen ans Leben.

Man könnte Neil sowohl einen Verweigerer als auch Parasiten nennen. Während seine Schwester die Verantwortung für das Familienunternehmen übernimmt, lässt er sich aus dem gemeinsamen Erbe eine Pension auszahlen und hält sich sonst raus. Seine Tage verbringt er nun damit, an den Strand zu gehen und sich am Abend ein Bier im Laden um die Ecke zu holen. In regelmäßigen Abständen ruft seine Schwester an, der er dann das Märchen mit dem verlorenen Pass, den er beim Konsulat wiederbeschaffen müsse, aufrechterhält. Schließlich kommt Alice selbst nochmals nach Acapulco und konfrontiert ihn damit. Doch Neil hat keine Worte, um zu erklären, weswegen er nicht mehr in sein altes Leben zurück will.

Irgendwann bleiben die Worte ganz aus. Bevor Alice wieder nach Hause fliegen kann, wird auf sie und den Familienanwalt Richard (Henry Goodmann) geschossen. Alice stirbt und Neil wird von der mexikanischen Polizei verdächtigt und verhaftet. Dermaßen unfassbar ist für ihn der Schmerz, dass er verstummt. Nicht nur gegenüber den Behörden oder den Anwälten, die erwarten, dass er sich rechtfertigt, sondern auch gegenüber seinem Neffen und seiner Nichte, die seine Stille als Reaktion der Gleichgültigkeit missdeuten. Doch eigentlich braucht es der Worte keine. Es reicht, in Neils zerfurchtes Gesicht zu schauen, das er der Sonnen entgegenstreckt, um daraus die ganze Bandbreite seiner Emotionen ablesen zu können.

Tim Roth, der in der Regel seine Filmfiguren mit einer gewissen Eloquenz spielen muss, in dieser Hauptrolle zu sehen, ist eher ungewohnt. Aber sie steht ihm. Und Franco weiß in Roth offenbar genau diese Seite des Darstellers zu schätzen und entsprechend in Szene zu setzen – man erinnere sich an die Zusammenarbeit der beiden in Chronic. Roth bewegt sich mit Natürlichkeit durchs Bild und verkörpert den anspruchslosen Ausländer, der kaum zwei Worte Spanisch zusammenbringt, sich aber nicht einschüchtern lässt, mit einer einnehmenden Gelassenheit. Neil wirkt durch seine kindliche Freude und Schüchternheit sympathisch, hat aber auch eine bewundernswerte Entschlossenheit an sich.

Michel Franco beweist Mut zur Lakonie, indem er seiner Hauptfigur weder eine komplizierte Vorgeschichte gibt noch versucht, deren Handlungen oder Innenleben auszuerzählen. Sundown ähnelt vielmehr einer Momentaufnahme, die, so kitschig es auch klingen mag, ein Gefühl des Angekommenseins im Leben, kurz bevor die Sonne zum letzten Mal untergeht, einfängt. Der Film sucht nicht nach spektakulären Wendungen, ist aber dennoch nicht arm an leidenschaftlichem Diskurs über die Liebe – zu anderen und vor allem zu sich selbst.

Als Schauplatz für Sundown wählt Franco Acapulco – eine Stadt der Kontraste. Hier verläuft eine klare Trennung zwischen Reich und Arm. Für einige steht das Leben hier täglich auf dem Spiel. Doch sind die Menschen auch mit den gleichen Wünschen und Gedanken wie anderswo beschäftigt. Das Bild, das Franco von der mexikanischen Stadt zeigt, ist weder das eines des Zerfalls noch das der Dekadenz. Über die Figur des Neil nähert er sich ihren Einwohnern respektvoll und mit Zuneigung. Spannend zu sehen ist, dass er dieses Mal einen anderen Weg als in New Order geht, einem Film, der einem laut und kompromisslos entgegentritt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/sundown-geheimnisse-in-acapulco-2021