Der Fall des Gabriel Fernandez (Dokuserie, 2020)

„Kaputtes System“?

Eine Filmkritik von Falk Straub

True-Crime-Formate boomen, zumindest bei Netflix. Während sich Amazon mit selbst produzierten Dokumentarserien über wahre Verbrechen weiterhin zurückhält, erscheinen beim Konkurrenten gefühlt jede Woche zwei neue. Viele Fälle sind brutal, manche kurios, zum Teil geht es um Justizirrtümer, die mitunter erst durch die Dokus aufgedeckt werden. Häufig machen sich die Serienschöpfer*innen zu Anwält*innen einer gerechten Sache. Auch Regisseur Brian Knappenberger richtet sein Augenmerk auf ein „kaputtes System“, das es zu reparieren gelte. Dabei lässt er seinen Blick in diverse Richtungen schweifen und verliert das Wesentliche immer wieder aus dem Fokus.

Kaputt oder „broken“, wie es im Original mehrfach heißt, sind nach dem Dafürhalten verschiedenster Experten gleich mehrere Behörden: das kalifornische Department of Children and Family Services, kurz DCFS, dessen Aufgaben in etwa denen deutscher Jugendämter entsprechen, das Gremium, das das DCFS kontrolliert, das Wohlfahrtsamt und dessen privatwirtschaftlicher Träger und nicht zuletzt die Polizei der Stadt Palmdale.

Die mit den Vorwürfen konfrontierten Verantwortlichen sehen das naturgemäß anders. Die Behördenspitzen sind gegenüber der Filmcrew zu keinen Aussagen bereit. Doch was war passiert?

Am 22. Mai 2013 wählt Pearl Fernandez den Notruf. Ihr achtjähriger Sohn Gabriel atme nicht mehr. Als die Ersthelfer in der Wohnung im kalifornischen Palmdale eintreffen, werden sie schnell stutzig. Pearl und ihr Lebensgefährte Isauro Aguirre sprechen von einem Unfall, die vielen Wunden an Gabriels Körper sprechen dagegen. Zwei Tage später erliegt Gabriel seinen Verletzungen. Der Endpunkt eines körperlichen und seelischen Missbrauchs, der sich über einen Zeitraum von acht Monaten erstreckte und dessen Ausmaß selbst hart gesottene Ermittler und Juristen erschüttert.

Regisseur Brian Knappenberger packt diese grausame Ausgangslage seiner sechsteiligen Doku-Serie in einen, man kann es nicht anders sagen, stimmungsvollen und atmosphärisch verdichteten Auftakt. Der Originalmitschnitt des abgesetzten Notrufs erklingt aus dem Off, Blaulicht erhellt die Nacht, eine Krankenschwester berichtet den Tränen nahe von ihren Eindrücken, als Gabriel ins Krankenhaus gebracht wurde.

In der Folge zeichnet Knappenberger Gabriels kurzes Leben nach, begleitet die Gerichtsverhandlungen gegen die zuständigen Sozialarbeiter*innen, gegen Gabriels Mutter Pearl, vor allem aber gegen deren Lebensgefährten Isauro Aguirre. Dabei stellt er die Frage, warum niemand rechtzeitig eingeschritten ist. Gabriels Missbrauch war für viele sichtbar und wurde den Behörden wiederholt gemeldet. Doch ein ums andere Mal glaubten Polizei und Jugendamt den Ausreden der Mutter und ignorierten das Augenfällige.

Jede Episode hat einen anderen Fokus. Mal blickt Knappenberger auf die Tat selbst, mal auf die Strategie der Ankläger, mal auf die Entscheidungsfindung der Geschworenen. Dann wieder nimmt er sich die mediale Berichterstattung über den Fall und das Verhalten der Behörden vor. Gabriels Verwandte, der ermittelnde Staatsanwalt, ein Sozialarbeiter, Journalisten und viele weitere Stimmen kommen zu Wort. Das Ergebnis ist eine nicht immer ausgewogene Mischung aus Gerichtsdrama und Gesellschaftskritik. Nach und nach setzt sich ein Bild aus Systemzwängen zusammen. Rechte konfligieren. Überlastung und Spardiktate führen zu Fehlern.

In ihrer Analyse und Kritik behördlicher Missstände ist diese Serie präzise und insistierend. Und auch der Blick auf die mediale und soziale Öffentlichkeit ist vielsagend. Aus Schock und Rastlosigkeit über ein solches Verbrechen wird allzu schnell und gern in Kategorien von Gut und Böse gedacht, werden Täter dämonisiert, um den Ursachen ihrer Taten nicht auf den Grund gehen zu müssen. Leider tun dies auch Knappenberger & Co. Ein mögliches homophobes Tatmotiv von Isauro Aguirre wird zwar erwähnt, aber nicht weiter verfolgt. Das ist umso ärgerlicher und unverständlicher, als der Regisseur kurz vor Schluss einen weiteren Informations-Hammer auspackt: Einige Jahre nach Gabriel stirbt ein weiterer Junge unter vergleichbaren Umständen. Nicht nur haben hier erneut Behörden versagt, auch im zweiten Fall kann ein homophobes Motiv des Täters nicht ausgeschlossen werden.

Das Zurückhalten dieses zweiten Falls, der eigentlich ganz an den Anfang gehört hätte, ist symptomatisch für diese und viele weitere True-Crime-Serien. Eine versiert inszenierte Mischung aus Interviews, nachgestellten Szenen und häppchenweiser Informationsvermittlung zieht das Publikum mitten hinein in den grausamen Fall. Cliffhanger, die bedeutende Wendepunkte andeuten, animieren zum Dranbleiben. So pietätvoll Knappenberger mit dem Opfer dieses Verbrechens auch umgeht, ordnet er das Verbrechen selbst und damit indirekt auch Gabriel Fernandez gnadenlos der Dramaturgie unter.

Um für das Thema Kindesmissbrauch zu sensibilisieren und um Institutionen kritisch zu hinterfragen, braucht es Serien wie diese. In Zeiten, in denen immer weniger Ressourcen für investigativen Journalismus zur Verfügung stehen, sogar umso mehr. Auch das zeigen Knappenberger und sein Team. Über die Form ihrer Sensibilisierung und das Ziel ihrer Kritik lässt sich freilich trefflich streiten.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-fall-des-gabriel-fernandez-dokuserie-2020