Sag du es mir (2019)

Drei Blickwinkel

Eine Filmkritik von Falk Straub

Ein Mann stößt eine Frau von einer Brücke. Seine Identität und die Gründe für seine Tat sind nicht klar. Kennen sich Opfer und Täter? Sagt die Geschädigte die Wahrheit? Verschweigt sie etwas? Und erinnert sie den Vorfall richtig? In seinem Abschlussfilm im Masterstudiengang an der Filmuniversität Babelsberg erzählt Michael Fetter Nathansky ein Verbrechen aus drei unterschiedlichen Perspektiven und erinnert damit an ein großes Werk der Filmgeschichte.

Für Moni (Christina Große) ist der Fall eindeutig. Nach fast 20 Jahren hat sie ihre Zelte auf Mallorca abgebrochen, um in ihrer alten brandenburgischen Heimat ihrer Schwester Silke (Gisa Flake) beizustehen. Vom Sturz noch sichtlich gezeichnet, blockt Silke ab. Mit dem Selbstmord eines Arbeitskollegen habe der Angriff auf sie nichts zu tun. Das sieht Moni ganz anders. Immerhin hat sie extra Deniz (Walid Al-Atiyat) engagiert, um sich an Silkes Arbeitsplatz umzuhören. Dabei findet Deniz heraus, dass Silkes Nachbar René (Marc Ben Puch) ihr die Schuld am Suizid seines Bruders gibt. Der Angriff auf der Brücke geschah aus Rache. Rache hat nun auch Moni im Sinn, die der Sache damit ein für alle Mal ein Ende setzten will. Fall erledigt, oder etwa nicht?

Ganz so leicht macht es Michael Fetter Nathansky seinem Publikum nicht. Monis Blickwinkel ist nur eines von drei Kapiteln, die nach und nach Neues offenbaren und zuvor Gezeigtes zum Teil revidieren. Als Nächstes ist René an der Reihe, der mit sich selbst und seinen Gefühlen hadert. Zu guter Letzt gibt Silkes Perspektive der Handlung eine völlig andere Richtung. Drei Ausschnitte aus drei Mittelschichtsexistenzen – voller Alltagssorgen, die im Kino allzu oft zu kurz kommen. Drei Menschen, die ihr Leben nur scheinbar im Griff haben und nach Orientierung suchen. Wie sollen sie sich verhalten? Was ist richtig, was falsch? Sag du es mir!

Dass Augenzeugen ein und dieselbe Situation ganz unterschiedlich erinnern, ist nichts Außergewöhnliches. Inzwischen hat sich dafür der Name Rashomon-Effekt eingebürgert. Akira Kurosawas Welterfolg Rashomon (1950) stand dafür Pate; ein Drama, das ein grausames Verbrechen aus gleich vier unterschiedlichen Perspektiven schildert. Fetter Nathansky kombiniert dieses Erzählverfahren in seinem Langfilmdebüt gleich noch mit einem anderen filmischen Experiment. Der Rashomon- trifft auf den Kuleschow-Effekt. Durch die Montage neu angeordnet, ergibt sich in den jeweiligen Kapiteln aus ein und derselben Einstellung auf einmal ein völlig anderer Sinn.

Die ausgeklügelte Narration ist denn auch die große Stärke dieses Erstlings. Visuell gibt er nicht viel her. Die Bilder, die die agile Kamera in Räumen ohne künstliche Ausleuchtung einfängt, ließen sich wohlwollend als lebensnah, dokumentarisch und authentisch beschreiben. Dem Alltag abgeschaut wirken auch die Dialoge, die das Schauspielensemble glaubhaft mit Leben füllt. Wirklich spannend sind jedoch die Fragen, die die Erzählung stellt: Schreibt jeder Mensch seine eigene Geschichte? Und wenn ja, welche Rolle spielt er darin? Wer ist Held*in, wer Bösewicht? Wer Hilfsbedürftige, wer Helfer? Und sind wir uns am Ende darüber im Klaren, dass wir alle nur Figuren in einer Geschichte sind?

Auf die Frage, wie und weshalb Silke von der Brücke gestürzt ist, gibt die Handlung keine eindeutige Antwort. In einer Zeit, in der es keine Wahrheiten mehr zu geben scheint, weil die Wahrheit von allen Seiten unter Beschuss gerät, bietet dieser Film ein versiertes Spiel mit Wahrnehmungen. „Und warum sollen wir dir dit jetzt globen“, fragt René Silke ganz zum Schluss. „Wat blebt'n uns anderes übrig?“, fragt Silke zurück und schließt in dieses uns auch uns Zusehende mit ein.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/sag-du-es-mir-2019