Black Widow (2021)

Marvel ist Marvel ist Marvel

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Ohio 1995, ein ungewöhnlicher Abend im Hause einer scheinbar ganz gewöhnlichen Familie: Die jugendliche Natasha (Ever Anderson) und ihre kleine Schwester Yelena (Violet McGraw) spielen im Garten, Yelena verletzt sich, Mama Melina (Rachel Weisz) eilt herbei, um sie zu trösten. Gemeinsam werden die Glühwürmchen bestaunt, wenig später steht das Abendessen auf dem Tisch. Als Vater Alexei (David Harbour) durch die Tür poltert, ist es mit der Idylle vorbei: Die vier packen ihre Sachen und müssen vor der Polizei fliehen, zunächst im Auto, dann im Flugzeug, Landepunkt Kuba. Dort wird die Familie unter Tränen getrennt, die Kinder kommen in ein Spionage-Trainingslager, das sie Zeit ihres Lebens prägen wird.

Nein, gewöhnlich ist oder vielmehr war an dieser Familie nichts, was wenig überraschend ist, befinden wir uns hier doch im Marvel Cinematic Universe (MCU), auf dessen Figuren Labels wie „gewöhnlich“ oder „normal“ so gar nicht passen und die stattdessen stets überlebensgroß sind. Das gilt selbst für jene, die keine übernatürlichen Kräfte oder Milliarden von Dollar für ihre Kampfanzüge bunkern, sondern denen ihre menschliche Existenz ganz natürliche Grenzen setzt. Unter den Avengers sind das namentlich Clinton „Hawkeye“ Barton (Jeremy Renner) und Natasha „Black Widow“ Romanoff. Letztere trat bereits im dritten Film des MCU, Iron Man 2 von 2010, erstmals in Erscheinung, war prominente Nebenfigur in den Captain-America- und Avengers-Filmen – und erhält nun endlich, endlich ihren eigenen Film, zugleich der 24. Film des Franchises und nach Captain Marvel erst der zweite, der sich um eine weibliche Titelfigur dreht: Black Widow.

Nun starb die Meisterspionin und Auftragskillerin bereits in Avengers: Endgame einen tragischen Leinwandtod, weshalb Black Widow eine Geschichte aus der Vergangenheit erzählen muss. 21 Jahre sind nach den Ereignissen des Prologs vergangen, und nur wenige Tage seit dem Ende von The First Avenger: Civil War. Natasha Romanoff (jetzt: Scarlett Johansson) ist auf der Flucht vor den US-Behörden und wird dabei mit ihrer Vergangenheit konfrontiert: Ihre Schwester Yelena (jetzt: Florence Pugh) schickt ihr mehrere Dosen einer chemischen Substanz. Mit der, so stellt sich nach dem konfliktreichen Wiedersehen der beiden heraus, lässt sich die Gedankenkontrolle aufheben, unter der die anderen Widows stehen. Die kontrolliert der Russe Dreykov (Ray Winstone) von seinem „Red Room“ genannten Hauptquartier aus, das die beiden nun aufspüren wollen, um dem Mann im Schatten den Garaus zu machen.

Die „Schwarze Witwe“ zählt(e) zu den wenigen tatsächlich interessanten Charakteren des MCU: eine abgeklärte, wandelbare Profikillerin mit dunkler Vergangenheit, die trotz dessen die meisten ehrlichen Emotionen zeigte –  allem voran in ihrer Beziehung zu David Banner/Hulk (Mark Ruffalo), und die sich trotz körperlicher Unterlegenheit zu einem der wichtigsten Bindeglieder der Held*innentruppe entwickelte. Diese dunkle Vergangenheit will Black Widow nun erhellen, was ihm auch effektiv gelingt. Zwar gibt es abseits des Prologs keine visuellen Einblicke in Natashas Vergangenheit, dafür resultiert das Wiedersehen mit Yelena, Alexei und Melina in reflektierenden Gesprächen über das damalige Zusammenleben, das lediglich eine Undercover-Tarnung war, sowie das grausame Trainingsprogramm im Red Room. Verkommen die Dialoge zwischen den Action-Setpieces der Marvel-Filme in den meisten Fällen zum narrativen Vehikel für Gags und die Planung dessen, was als Nächstes bevorsteht, dienen sie hier der ausführlichen Exposition einer Figur, die bislang kaum etwas über ihre Vergangenheit und inneren Gefühle preisgegeben hat.

Tonal erinnert das als Spionage-Thriller am ehesten an The Return of the First Avenger, inklusive des Aufdeckens einer umfassenden Verschwörung, über weite Strecken bleibt der Film bodenständig und Pathos-arm. Prototypisch Marvel sind hingegen die Gags, die jedoch ausschließlich dem Zusammenspiel der vier zentralen Figuren entspringen: Wenn Yelena ihre große Schwester beeindrucken will oder sie darauf aufmerksam macht, dass ihre Kampfhaltung ja reines Posen sei, wenn der klobige Alexei aus dem Prahlen nicht mehr herauskommt, nur um gleich darauf doch wieder eine Klatsche zu kassieren, oder wenn Melina in ihrer gefühllos-trockenen Art erklärt, wie sie es geschafft hat, ein Schwein der Gedankenkontrolle zu unterziehen – aus dieser Surrogatsfamilien-Konstellation mit ihren ganz und gar konträren Mitgliedern resultiert eine organische, unaufdringliche Humordynamik.

Denn wie bereits erwähnt: Gewöhnlich ist hier niemand. Und genau das bildet den zentralen Konflikt von Black Widow, der den Film in dieser Hinsicht angenehm von den anderen Origin-Storys des MCU abhebt: Wo sonst ein/e Normalo zur überlebensgroßen Figur heranwächst, sehnt sich die Protagonistin hier nach exakt dieser Normalität, zumindest ein wenig davon, nach einem intakten Familienleben, nach ein bisschen Geborgenheit. Danach, die Schatten ihrer Vergangenheit zu bewältigen und dies auch den anderen Widows zu ermöglichen, die wie Natasha einst noch immer unter der Kontrolle eines alten weißen, machthungrigen Mannes stehen, welcher die jungen Frauen als stets verfügbare und entbehrliche Objekte für die eigenen Fantasien ansieht. Die äußerlichen wie innerlichen Parallelen zwischen Dreykov und einem gewissen Harvey S. sind dabei unübersehbar.

Eine Zeitenwende im Superhelden-Genre leitet Black Widow aber lange nicht ein. Es bleibt dabei: Marvel ist Marvel ist Marvel. Dazu gehören auch mediokre inszenierte Actionszenen, die zwar diesmal sehr physisch ausfallen und auf Laserstrahlen und Ähnliches verzichten, in denen eine wackelige Kamera und schnelle Schnitte aber vieles kaschieren sollen. Ebenso wie das unvermeidbare Krachbumm-Finale, eine Fünf-Akt-Struktur, die vor sämtlichen Drehbuchratgebern auf die Knie fällt, ein völlig banal vor sich hindudelnder Soundtrack und eine Post-Credit-Scene, die Kommendes anteasert. Ein mutiges oder gar Konventionen sprengendes Werk ist der australischen Regisseurin Cate Shortland (Somersault, Berlin Syndrom) nicht gelungen. Dafür aber eines, das doch deutlich erkennbar ihre Handschrift trägt, insofern sich auch hier eine Frau gegen toxische Männlichkeit zur Wehr setzt. Und das dieser so ungewöhnlich gewöhnlichen Figur des MCU einen angemessenen Abschied bereitet.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/black-widow-2021