Babel

Wenn die Welt aus der Balance gerät

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Jeder Mensch auf der Welt ist mit jedem beliebigen anderen über sechs Stationen verknüpft – so will es zumindest ein Mythos des Internet-Zeitalters. Während diese Hypothese in den globalisierten Räumen des weltumspannenden Computernetzes sich allenfalls auf virtuellen Pfaden nachvollziehen lässt, wird dieses unsichtbare Band, das Menschen miteinander verknüpft, in manchen Fällen auf dramatische Weise sichtbar und macht auf drastische Weise deutlich, dass unser globales Dorf, in dem wir leben, nicht nur Chancen, sondern auch enorme Risiken in sich birgt. Was wäre, wenn – so die die Grundidee des neuen Films von Alejandro González Iñárritu – die Kommunikation nichts als ein riesiges Missverständnis wäre, was wenn wir in einem alttestamentarischen und babylonischen Zustand der Sprachverwirrung leben würden, in dem keiner den anderen mehr versteht, weil wir es verlernt haben, einander zuzuhören?

Die Geschichte von Babel ist bei aller Komplexität schnell erzählt: Alles beginnt mit einem Schuss in der marokkanischen Wüste. Zwei Hirtenjungen, die mit dem Gewehr ihres Vaters herumhantieren, feuern spielerisch auf einen vorbeifahrenden Bus und treffen aus Versehen die Amerikanerin Susan (Cate Blanchett), die mit ihrem Mann Richard (Brad Pitt) unterwegs ist, um Abstand vom plötzlichen Tod ihres dritten Kindes zu gewinnen. Mitten in der Einöde und der Sprache des Landes nicht mächtig sucht Richard verzweifelt um Hilfe für seine verletzte Frau. Als er schließlich seine Botschaft erreicht, vermutet die einen terroristischen Hintergrund des Unglücks; eine Hypothese, die durch die Berichterstattung der Medien weiter angeheizt wird. Die Schulterverletzung von Susan hat aber auch Folgen in der weit entfernten Heimat der Familie in San Diego: Dort wartet das mexikanische Kindermädchen Amelia (Adriana Barraza) sehnsüchtig auf die Rückkehr ihrer Dienstherren, denn sie muss dringend nach Mexiko, da ihr Sohn dort heiratet. Nach dem Anruf Richards, der das Unglück und die daraus resultierende Verspätung ankündigt, lässt Amelia sich schließlich von ihrem Neffen Santiago (Gael García Bernal) dazu überreden, die bei ihr in Obhut gegebenen Kinder einfach nach Mexiko mitzunehmen. Und schließlich ist da noch die taubstumme Schülerin Chieko (Rinko Kikuchi) aus Tokyo, die sich aufgrund ihres Handicaps als Außenseiterin fühlt und die gegen ihren Vater Yasujiro (Kôji Yakusho) rebelliert, der auf geheimnisvolle Weise mit dem Schuss in der marokkanischen Wüste in Zusammenhang steht…

Kaum ein Regisseur der Gegenwart beherrscht das Spiel mit verschiedenen Orten, Zeiten und Milieus, die Verknüpfung von scheinbar Unzusammenhängendem und das Sichtbarmachen der geheimen Bande, die jeden Menschen auf der Welt miteinander verknüpfen, so virtuos wie der mexikanische Filmemacher Alejandro González Iñárritu. Zwei Filme, Amores Perros und 21 Gramm, haben ausgereicht, um seinen Ruf als einer der innovativsten und aufregendsten Filmemacher unserer Zeit zu begründen, und mit Babel fügt Iñárritu seinem Bild einen weiteren Baustein, seiner Biographie ein weiteres Meisterwerk hinzu. Trotz des wahrhaft monomanischen Anspruchs, eine biblische Parabel auf unser modernes Leben zu erschaffen, scheitert der Mexikaner zu keinem Zeitpunkt an der titanischen Aufgabe, sondern bleibt beängstigend nahe an den Einzelschicksalen seiner Figuren, jongliert virtuos mit den vielfältigen und heterogenen Elementen des Stoffes, ohne jemals das Gesamtwerk aus dem Auge zu verlieren. Babel ist ein Film voller Weisheit und Größe, Detailreichtum und Liebe, Schonungslosigkeit und Verständnis für die tiefe Komplexität einer Welt, in der der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Sturm auslösen kann.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/babel