3096 Tage (2013)

Verstörend

Eine Filmkritik von Peter Osteried

Es gibt Filme, die man sich nicht ihres Unterhaltungswerts wegen ansieht. Die Gründe, sie zu sehen, mögen mannigfaltiger Natur sein. Kino- oder zeithistorisches Interesse, eine Mixtur aus Sensations- und Neugier, vielleicht aber auch der Glaube, dass eine Leidensgeschichte auf der Leinwand das eigene Leben in Perspektive setzt. Man bekommt Einblick in ein Leben, das man niemals führen wollen würde, das so schrecklich ist, dass man sich kaum vorstellen kann, wie es sein muss, es über Jahre hinweg ertragen zu müssen. 3096 Tage der Hölle auf Erden, komprimiert auf die Länge eines Spielfilms, der erfühlbar macht, wie diese Zeit gewesen sein mag.

Das zehnjährige Mädchen Natascha Kampusch wird von Wolfgang Priklopil entführt und in ein nur wenige Quadratmeter großes Verließ unter dem Keller seines Hauses gesperrt. Der Entführer will kein Geld, er sucht – auf seine ganz verquere Art und Weise – nach Liebe. Freiwillig gibt sie ihm niemand, also nimmt er sie sich. Natascha wächst mit Priklopil als einziger Bezugsperson auf, erhält von ihm Zuneigung, aber auch Schläge und Demütigungen. Letzten Endes kann nur einer von beiden überleben.

In 3096 Tage ist man als Zuschauer von der Außenwelt abgeschnitten. Der Film befasst sich nicht mit der Suche nach dem entführten Mädchen, nicht mit der Mediengeschichte, die ihr Freikommen darstellt. Nein, der Film spielt fast ausschließlich auf sechs Quadratmetern Lebensraum. Der grandiose Kameramann Michael Ballhaus schummelt dabei nicht. Gedreht wird innerhalb dieser Beengung. Zwar wurden am Set schon mal Wände entfernt, um etwas mehr Bewegungsfreiheit zu haben, die Kamera blieb aber innerhalb der Beschränkungen dieser Räumlichkeit. Sie erzeugt ein klaustrophobisches Gefühl, dem man sich als Zuschauer nicht entziehen kann. Auch das macht 3096 Tage nur schwer erträglich.

Wüsste man nicht, dass es ein Happyend gibt, dass das Opfer zur Überlebenden wird, dieses Zwei-Personen-Stück wäre kaum anschaubar. In seiner Intensität geht 3096 Tage an Grenzen. Der Film lotet schmerzhaft aus, wie ein Leben aussieht, dem alles genommen wurde: Herzlichkeit, Wärme, Freiheit, Frieden, ja sogar so etwas Alltägliches wie das Gefühl, nicht Hunger leiden zu müssen. Die zierliche Antonia Campbell-Hughes leidet wahrhaftig – oder sieht zumindest danach aus. Sie ist abgemagert, kaum mehr als Haut und Knochen, ein Häufchen Elend, bei dessen Anblick es einem das Herz zerreißt. Über weite Strecken des Films ist sie das, als was Natascha Kampusch nicht gesehen werden will: ein Opfer, das unfähig ist, die Initiative zu ergreifen, um sich zu befreien – auf die eine oder andere Art. Wo man im Film versteht, warum der Selbstmordversuch abgebrochen wird – der Überlebensinstinkt ist zu groß –, bleibt rätselhaft, wieso sie so lange brauchte, um zu entkommen. Oder es zumindest zu versuchen. Der Film kann diese Frage nicht beantworten, eine Sequenz, in der sich Natascha vor dem Spiegel selbst als dümmer als ein Hund schilt, hätte einer genaueren Vertiefung bedurft.

Aber das ändert nichts daran, dass 3096 Tage ein extremer Film ist, der ähnlich dem österreichischen Michael, welcher von dem wahren Fall inspiriert wurde, noch lange im Kopf des Zuschauers nachhallt. Keine Unterhaltung, kein schöner Film, sondern ein Dokument des Leidens.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/3096-tage-2013