Wolfskinder

Eine Filmkritik von Alina Impe

Hunger und Instinkt

„Wach auf. Mutti ist tot.“ Hans öffnet die Augen. Der Körper neben ihm ist kalt, steif und schmutzig. Gestern Nacht war er noch warm. Gestern Nacht hatte die Mutter gesagt, Hans und Fritz sollen gemeinsam nach Litauen gehen. Dort gäbe es eine Familie, die für die beiden Brüder sorgen würde. Die Mutter war krank und wollte nachkommen, sobald es ihr besser ginge. Dann sind sie aneinandergeschmiegt eingeschlafen. Jetzt ist die Mutter tot.
Es ist das Jahr 1946. Hans und Fritz leben als Wolfskinder in Ostpreußen. Der Krieg hat Armut und Hungersnot über die Bevölkerung gebracht, die Rote Armee hat das Land besetzt und macht Jagd auf die wenigen Überlebenden. Tausende Kinder haben ihre Eltern verloren und durchstreifen in kleinen Gruppen die Wälder und Dörfer auf der Suche nach Nahrung und Obdach. Ihr Alltag ist vom nackten Überleben bestimmt. Unter ihren zerrissenen und verdreckten Kleidern verbergen sie ihre ausgemergelten Körper und ihre blutenden Wunden. In ihren Gesichtern hat sich der Schmutz eingebrannt. Eine glückliche Kindheit kennen sie nicht. Sie kennen nur den Krieg und das, was er übrig gelassen hat.

Der Begriff „Wolfskinder“ bezeichnet verwaiste Kinder und Jugendliche, die nach 1945 von Ostpreußen nach Litauen, Lettland oder Weißrussland flüchteten und versuchten, dem drohenden Hungertod in ihrem Land zu entgehen. Eine vergessene Generation, die schutzlos und verwahrlost umherirrte, wissend, dass der Tod durch Hunger oder Erschießen stets nur einen Schritt hinter ihnen war. Kinder, die durch unmenschliche Umstände zu entmenschlichten Kreaturen wurden, verroht und vertiert, zurück- und alleingelassen. Die Wenigen, denen die Flucht gelungen ist, mussten in ihrer neuen Heimat ihre alte Herkunft verschleiern und eine neue Identität annehmen.

Regisseur Rick Ostermann führt seine Charaktere zunächst durch eine Umgebung, die Leichtigkeit und Zuversicht verspricht. Der Sommer 1946 ist heiß, sonnig und überzieht das Land mit einem goldenen Schimmer. Die beiden Brüder Hans und Fritz sind zwei aufgeweckte Kinder. Hans ist still und besonnen, Fritz ist mutig und beherzt. An einem Nachmittag stehlen sie den Sowjets ein Pferd und führen es zu einer Scheune. Hans, der ein Tagebuch von Darwin sein Eigen nennt und großes Interesse an der Natur hat, streichelt behutsam seine Nüstern. Bis Fritz eine Pistole hervorholt und schießt. Dann weiden sie das Tier aus.

Doch das Versprechen gegenüber der Mutter, gemeinsam nach Litauen zu gehen, können sie nicht einhalten. An einem Fluss geraten sie in den Kugelhagel der Roten Armee und verlieren sich aus den Augen. Hans trifft auf andere Kinder und flieht mit ihnen in die Wälder. Das Schicksal seiner neuen Gefährten ist identisch: Auch ihre Eltern sind tot oder verschollen, auch ihr Leben ist von Flucht und Hunger bestimmt. Gierig stopfen sie Frösche, wilde Beeren und rohes Fleisch in ihre verschmierten Münder, während ihre Augen ängstlich den Wald nach der nächsten Bedrohung absuchen. Zumindest Hans hat ein Ziel vor Augen, das ihn zum Weitergehen und Weiterleben zwingt. Er will den Hof in Litauen finden und dort auf seinen Bruder warten. Die anderen Kinder haben gar nichts. Der Jüngste unter ihnen hat nicht mal ein Paar Schuhe.

Rick Ostermanns Spielfilmdebüt ist durch Zeitzeugen und intensive Recherche eng an ein dunkles Kapitel europäischer Geschichte geknüpft. Zugleich steht es außerhalb davon exemplarisch für die tausenden Einzelschicksale von politisch Verfolgten und Vertriebenen. Für persönliche und anonyme Tragödien, zu deren Verständnis keine politischen Zusammenhänge nötig sind. Kraftvoll und kräftezehrend entfaltet Wolfskinder eine grausame Welt, in der die Befriedigung der eigenen Existenzbedürfnisse die oberste Maxime bildet und Vertrauen – wenn überhaupt – nur unter Gleichen möglich ist. Eine Welt, in der die Unschuldigen die Bürde der Schuldigen tragen müssen. Entsprechend bitter ist der Nachgeschmack, mit dem der Film seine Zuschauer entlässt: Vom Leben an der Schwelle zum Tod erzählen nicht nur die Geschichtsbücher. Der Kampf gegen Hunger und Angst ist zeitlos.

Wolfskinder

„Wach auf. Mutti ist tot.“ Hans öffnet die Augen. Der Körper neben ihm ist kalt, steif und schmutzig. Gestern Nacht war er noch warm. Gestern Nacht hatte die Mutter gesagt, Hans und Fritz sollen gemeinsam nach Litauen gehen. Dort gäbe es eine Familie, die für die beiden Brüder sorgen würde. Die Mutter war krank und wollte nachkommen, sobald es ihr besser ginge. Dann sind sie aneinandergeschmiegt eingeschlafen. Jetzt ist die Mutter tot.
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