What Time Is It There?

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Zeit und Vergänglichkeit

Das vielschichtige Phänomen der Zeit stellt einen philosophischen Gegenstand dar, der gerade innerhalb des Mediums Film zu anspruchsvollen und anregenden Perspektiven gelangt. What Time Is It There? / Ni na bian ji dian des mehrfach preisgekrönten chinesisch-taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-Liang, der auch für dieses Werk zahlreiche bedeutende internationale Auszeichnungen erhielt und 2001 beim Filmfestival in Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme vertreten war, beschäftigt sich nicht nur inhaltlich mit dieser Thematik, sondern transportiert ihre Facetten zugleich in der reduzierten Geschwindigkeit seiner Inszenierung.
Hsiao-Kang (Kang-Sheng Lee) ist ein absoluter Einzelgänger, der sich auf Uhren spezialisiert hat und seine Ware an einem kleinen Stand auf einer Fußgängerbrücke über dem dichten Verkehr von Taipeh anbietet. Er ist ein kauziger Freak, der bei seinen Eltern lebt und die merkwürdige Angewohnheit kultiviert hat, in seinem Zimmer in Behältnisse wie Plastiktüten oder Flaschen zu pinkeln, anstatt die Toilette zu benutzen. Bald stirbt sein Vater (Tien Miao), und gemeinsam mit der Mutter (Yi-Ching Lu), zu der er eine distanzierte Beziehung unterhält, begibt sich der junge Mann leicht unbeholfen und widerwillig in die offiziellen Totenrituale. Eines Tages erscheint die resolute Shiang-Chyi (Shiang-Chyi Chen) an seinem Stand und will genau die Uhr, die der Verkäufer an seinem Handgelenk trägt und zwei Zeitzonen ausweist. Hsiao-Kang lehnt zunächst ab, doch die junge Frau kann ihn schließlich mit dem Argument überzeugen, dass sie bald ins Ausland, nach Paris reise. Der Handel ist perfekt, doch etwas Verbindendes bleibt nach der Trennung der beiden gleichermaßen einsamen Seelen zurück. Während Shiang-Chyi einen tristen Aufenthalt in Paris verbringt und die Begegnung nicht vergisst, versenkt sich Hsiao-Kang in zeitliche und filmische Dimensionen von Paris und schaut sich die Klassiker Hiroshima, mon amour von Alain Resnais und Sie küssten und sie schlugen ihn / Les Quatre Cents Coups von François Truffaut an. Unterdessen verfällt seine Mutter zusehends einer esoterisch orientierten, exzessiven Trauer um den schmerzlichen Verlust ihres Mannes, die in Regionen gerät, die ihren Sohn so verunsichern wie verärgern, der offenbar um die geistige Gesundheit seiner Mutter fürchtet. Dabei steht unentwegt die Frage im Raum, ob sich Shiang-Chyi und Hsia-Kang wiederbegegnen werden.

Es ist ein geruhsames Tempo, das What Time Is It There? vorlegt, mit langen, gelassenen Einstellungen, die es vermögen, die Schwerlastigkeit des Augenblicks in ihren trostlosen Bildern auszudehnen. Die Figuren betreten und verlassen die überdauernden Räume, zugleich mobil und gefangen in ihrer verzweifelten Einsamkeit und Vergänglichkeit. Doch eine allein triste, sanfte Harmonie wird durch verstörende Elemente der Dramaturgie unterwandert, die durch kleine Absurditäten oder unerwartete Heftigkeiten zu einer ungeheur kontrastiven Komik gelangt – eine ganz meisterhafte Installation, die eine ziemlich abgefahrene Variante der Zeitsymbolik darstellt. Als der Uhrenverkäufer im Foyer des Kinos eine Wanduhr von nicht unbeträchtlicher Größe entwendet und unter einem Sitz versteckt, gesellt sich ein seltsames Früchtchen zu ihm, schnappt sich die Uhr und flüchtet aus dem Saal, zögerlich verfolgt von dem überrumpelten Dieb. Nun ist das Spektrum der Optionen für den weiteren Handlungsverlauf nicht gering, doch Regisseur Tsai Ming-Liang entschied sich dafür, die beiden in der Toilette zusammentreffen zu lassen, wo sich der Knilch mit der Uhr vor dem Geschlecht seines entblößten Körpers im Türrahmen zeigt. Und gerade in solch beunruhigenden, je nach Ausrichtung des Zuschauers Lachen oder Schauern hervorrufenden Effekten liegt die Absicht des pfiffigen Regisseurs, sein Publikum zu verwirren und vom ausschließlich gefälligen Konsum seiner Filme abzuhalten. Bereits Johann Wolfgang von Goethe empfahl in Faust I den Dichtern und Dramaturgen im Vorspiel auf dem Theater: „Ich sag Euch, gebt nur mehr und immer, immer mehr, So könnt Ihr Euch vom Ziele nie verirren. Sucht nur die Menschen zu verwirren, Sie zu befriedigen ist schwer — -„.

Tsai Ming-Liang hat mit What Time Is It There? einen wunderbar melancholischen Film mit raren, aber explosiven Heiterkeitsattacken geschaffen, der diesen Ratschlag auf kunstvolle, fesselnde Weise innerhalb seiner gelungenen Zeit- und Vergänglichkeitsmetaphorik umsetzt.

What Time Is It There?

Das vielschichtige Phänomen der Zeit stellt einen philosophischen Gegenstand dar, der gerade innerhalb des Mediums Film zu anspruchsvollen und anregenden Perspektiven gelangt.
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