Una und Ray

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Gefühle eines dreizehnjährigen Mädchens

Una (Rooney Mara) läuft durch düstere Gänge, die Regale ragen bis an die Decke, darin liegen in langen Reihen aufgestapelte Pakete in verschiedensten Formen und Größen. Es sieht aus, als würde sie nach Ladenschluss ein sperriges Sitzmöbel bei Ikea suchen oder durch ein Zwischenlager von Amazon irren. Eine Umgebung, die im Zeitalter der Expresslieferungen und des kostenlosen Versands ab 20€ umgehend Statements abverlangt. Die endlosen Gänge verweigern jeden Überblick über die Ausmaße des Raumes, verstellen den Blick zum Tageslicht, sie symbolisieren das Image der kapitalistischen Zerstörer lokaler und regionaler Handelsstrukturen, Orte der absoluten Entfremdung. Dabei ist die Idee eigentlich eine ganz andere: die eines ultimativen Marktplatzes, an dem man unabhängig von lokaler Verfügbarkeit jederzeit alles bekommen kann, ein gesellschaftlicher Gleichmacher gewissermaßen, von dem der Händler sowohl als auch der Käufer profitiert und in dem letztlich jeder seine Nische findet.
Una hatte Ray (Ben Mendelssohn) hier, an seinem Arbeitsplatz, eigentlich aufgesucht, um ihn zu konfrontieren. Jetzt verstecken sie sich gemeinsam. Ein unangenehmer Zwischenfall während einer Betriebsversammlung bringt seine Chefs und Kollegen gegen Ray auf und nun wiederholt sich im Kleinen noch einmal der Zwischenfall von vor 15 Jahren. Una und Ray auf der Flucht in einer Welt, in der anything goes ein leeres Versprechen bleiben muss.

Una und Ray ist die Kinoadaption des Theaterstücks Blackbird von David Harrower, große Namen in der Broadway-Besetzung: Michelle Williams und Jeff Daniels. Wenn zu Beginn des Films die 13-jährige Una, irgendwo an der Schwelle zwischen Kind- und Teenagerdasein dargestellt von Ruby Stokes, in einem goldlichten Flashback vor dem Haus ihrer Eltern sitzt, schließlich aufsteht und zögernden Schrittes in den benachbarten Garten läuft, vor einem Holzschuppen zum Stehen kommt und neugierig durchs Fenster hineinschaut, lässt die bedrohliche Stecknadel-Atmosphäre eine Vergewaltigung als Auslöser der Handlung befürchten. Mit eindeutigen Urteilen ist es aber spätestens in der Gerichtsverhandlung vorbei. Una starrt frontal in die Kamera, die sie live in den Saal überträgt, in dem gerade über die angemessene Strafe für Ray verhandelt wird. „Wo warst du? Ich liebe dich“, schreit sie und unter den Anwesenden erhebt sich mitleidiges Gemurmel, auch empörtes. Es ist ein essentieller Moment in der Verfilmung von Regisseur Benedict Andrews, der Titel scheint in großen Lettern auf und alle Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Gefühle eines 13-jährigen Mädchens, die genauso undurchsichtig sind wie die Lyrics von P.J. Harvey, die dazu an der Tonspur kratzen: „That blue eyed girl / she said no more / that blue eyed girl / became blue eyed whore.“

Das Interesse gilt der jungen Una, aber auch der Erwachsenen, deren Gesichtszüge versteinern, als sie Ray, nachdem sie ihn auf einem Zeitungsfoto erkannt hat, findet und feststellen muss, dass er einen neuen Namen trägt, inzwischen sogar verheiratet ist. Sie steckt dagegen in ihrem alten Leben fest, wohnt noch bei der Mutter im gleichen Haus wie damals, dem gleichen Dorf, in dem sie als die stigmatisierte Außenseiterin dasteht. Sie möchte Ray hassen, aber da kommen auch die Erinnerungen an das Gefühl von damals wieder hoch, als die beiden den Altersunterschieden zum Trotz drei Monate lang eine Beziehung führten, das Hingezogensein. Eine ideale Rolle für die spitzmäusige Rooney Mara: sie wirkt wie ein junges Tier, das je nach Reizquelle hektisch witternd die Ohren mal in die eine, dann die andere Richtung dreht.

Die meisten Kritiken beschreiben Ray ganz eindeutig als Pädophilen, aber da wissen sie mehr als der Film. „Du warst so viel erwachsener als alle anderen in deinem Alter“, sagt Ray mit gequältem Gesichtsausdruck und man möchte ihm seine Version des Geschehens in diesem Moment vorbehaltlos abnehmen. „Aber so wollen doch alle Kinder wirken“, erwidert Una. Wie auch ein endgültiges Urteil über zwei fiktive Figuren fällen, noch dazu derart labile, in widersprüchlichen Gefühlen verstrickte Figuren, deren Erinnerungen so unzuverlässig sind wie ihre gegenwärtig aufgeriebene Wahrnehmung? Von der verantwortungsvollen Arbeit des Psychologen befreit zu sein, bedeutet: Zeit, um zu schauen, was in den Bildern ist. Benedict Andrews traut sich das Uneindeutige, das Heikle, lässt Ray und der jungen Una ihre Privatsphäre unter einem Baum im Park. Während einer zeitlupenartigen Kamerafahrt das raschelnde, flimmernde Laub zu beobachten, im Wissen um das Geschehen dahinter, irritiert, verunsichert das eigene Rechtsempfinden. Später wiederholt sich dieses Motiv – nur ohne die angedeutete Naturromantik – in der Firma: hinter den Schließfächern des verglasten Pausenraumes. Ausgerechnet am einzigen Ort des Films, der anmutet wie eine Bühne, finden Una und Ray ihre Nische.

Una und Ray

Una (Rooney Mara) läuft durch düstere Gänge, die Regale ragen bis an die Decke, darin liegen in langen Reihen aufgestapelte Pakete in verschiedensten Formen und Größen. Es sieht aus, als würde sie nach Ladenschluss ein sperriges Sitzmöbel bei Ikea suchen oder durch ein Zwischenlager von Amazon irren. Eine Umgebung, die im Zeitalter der Expresslieferungen und des kostenlosen Versands ab 20€ umgehend Statements abverlangt.
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