Vor der Morgenröte - Stefan Zweig in Amerika

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Reise-Schriftsteller

Schon Grand Budapest Hotel wäre Anlass genug, sich man sich mit Stefan Zweig zu beschäftigen – Wes Anderson ließ sich für seinen grandiosen Historienfilm von Zweigs Schriften inspirieren. Spätestens mit Vor der Morgenröte sollte Zweig zur Pflicht werden: Zu Lebzeiten war er – nach Thomas Mann – der international anerkannteste und geachteste deutschsprachige Schriftsteller. Aus seiner Heimat 1934 ins Exil getrieben, war er ein Wanderer ohne Heimstätte, nomadisierend zwischen Brasilien und New York. Maria Schrader, von Haus aus Schauspielerin, blickt in diesem großartigen, packenden Film auf die Exiljahre Stefan Zweigs – und begibt sich dabei glücklicherweise niemals in die Nähe von Biopic-Konventionen, sondern findet einen ganz eigenen – und den vermutlich einzig richtigen – Zugang.
Sechs Kapitel ergeben die Fragmente, aus denen sich ein Leben, besser: ein Innenleben erschließt. Sechs Kapitel, die fundiert sind in einer Lebensgeschichte, die ausgehen von historischen Fotographien, von verbürgten Begegnungen, von erlebtem Leben und ohne örtliche, geschweige denn kausale Zusammenhänge nebeneinanderstehen. Ein Leben, dem der Zusammenhang verloren gegangen ist. Ein hochgefeierter Schriftsteller, überall willkommen, mit Ehrungen bedacht, von Empfang zu Ehrung und wieder zurück geführt – aber verloren als einer, der physisch entwurzelt wurde und geistig Halt sucht.

Stefan Zweig ist ein komplexer Charakter, dem der Film in jeder Szene gerecht wird. Widersprüchlich, hadernd, gedankenvoll, freundlich, beschämt, genervt, traurig, energisch, kreativ, interessiert. Ein Mann, in dessen Kopf eine ganze Welt passt, und der an der wirklichen Welt still und leise vor sich hin leidet. Ein Mann unterwegs, der immer arbeitet, an einem Buch über Brasilien, einem autobiographischen Werk, einer Schach-Novelle … Dieses schriftstellerische Werk fließt nur ganz en passant ein in den Film, eine sehr kluge Entscheidung, die vermeidet, aus dem Werk Rückschlüsse auf die Biographie oder aus dem Leben Rückschlüsse auf die Fiktion zu ziehen. Schrader konzentriert sich auf die Miniaturen, als die sie ihre Kapitel angelegt hat, in denen Zweig aus seiner jeweiligen Situation heraus gezeigt wird, in denen Figuren auftreten, die historisch verbürgt, im Film aber kaum erklärt werden, in denen sich jeweils eigene Facetten seiner Persönlichkeit und seines Zustandes ergeben.

Aus spürbar umfangreichen Recherchen über Zweig, über das Exil, über Südamerika, über die 1930er und 1940er Jahre gelingt es Schrader, tiefe Einblicke nicht nur speziell in Zweig, sondern in die Exil-Situation überhaupt zu geben, in das innere Erleben desjenigen, der geflüchtet ist, der auf die alte Heimat blickt, die untergeht, der helfen will, aber nicht alles Leid auf sich nehmen kann. Sie schafft es, dieses Psychogramm auf äußerst sinnliche Art zu visualisieren und in einen Film zu überführen, der nicht nur Gefühle zeigt, sondern auch Gefühl hat.

Eine fulminante Rede hält Charlie Hübner als Emil Ludwig, Schriftstellerkollege, der auf dem PEN-Kongress 1936 in Buenos Aires die Dinge beim Namen nennt – „wir wollten gerne einen Film machen“, so Drehbuchautor Jan Schomburg, „in dem es möglich ist, so eine komplette Rede zu sehen, ganz detailliert Dinge zu zeigen, die uns interessieren.“ Zweig dagegen will sich nicht positionieren gegen die Nazidiktatur, nicht aus dem sicheren Rückzugsort des PEN-Club-Veranstaltungsortes in Rio de Janeiro aus, wo er risikolos dem Hitlerregime widersprechen könnte, so risikolos, dass sein Widerspruch verpuffen würde. Oder ist es nur Feigheit vor dem Feind, die ihn sprachlos sein lässt? Aus seinem Pazifismus macht er keinen Hehl, aus seiner Hoffnung für die ferne Zukunft auf ein friedliches, freies Europa, ohne Feindschaften und ohne Grenzen.

In solchen Szenen weist Vor der Morgenröte für jeden Zuschauer ersichtlich auf das Heute hin. Doch niemals stellt er derartige Zusammenhänge explizit her oder gar aus: Der Film bleibt bei seinem Subjekt, und das macht ihn überaus spannend. Wir begleiten Zweig auf seinen Recherchereisen durch Zuckerrohrplantagen und in einer New Yorker Exilantenwohnung, wir sehen ihn betreten bei einem völlig missglückten Empfang in der brasilianischen Provinz mit einem hilflos überforderten und unbedarft unbeholfenen Bürgermeister, bis inmitten von Grün ganz schief und schräg der Donauwalzer erklingt (eine Szene von meisterhaft unterspielter Komik!), und wir sehen ihn in seinem letzten Wohnort Petrópolis, wie er voller Bewunderung auf die Schönheit des Dschungels blickt und von innerer Traurigkeit überwältigt wird.

Das innere Leid eines Mannes, das sich nie wirklich Bahn bricht: Wer könnte es besser darstellen als Josef Hader, der Schmerzensmann aus den Simon-Brenner-Filmen? Hader ist für die subtile Rolle eines Schriftstellerschicksals vielleicht nicht die offensichtliche Wahl, aber eine durchaus logische. Diese Besetzung ist ein Glücksfall, weil sich in Hader die Einfühlsamkeit, die diesen Film ausmacht, personifiziert: Anders als mit Hader, der ganz instinktiv vorgeht, der ganz bei sich ist in seiner Darstellung, kann man sich Stefan Zweig nicht mehr vorstellen.

Vor der Morgenröte - Stefan Zweig in Amerika

Schon „Grand Budapest Hotel“ wäre Anlass genug, sich man sich mit Stefan Zweig zu beschäftigen – Wes Anderson ließ sich für seinen grandiosen Historienfilm von Zweigs Schriften inspirieren. Spätestens mit „Vor der Morgenröte“ sollte Zweig zur Pflicht werden: Zu Lebzeiten war er – nach Thomas Mann – der international anerkannteste und geachteste deutschsprachige Schriftsteller.
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Meinungen

christiane s. · 08.08.2016

Einfach nur genial und absolute Oscarreife. Der Film \"Vor der Morgenröte\"
hat mir durch die eher diffuse und indirekte Darstellung den damaligen Zeitgeist fast näher gebracht, als \"Schindlers Liste\".
Perspektivisch oft genial von der filmerischen Machart und schauspielerisch eine Höchstleistung voller Authentizität. Sieben von fünf Sternen :-)...und mal wieder Stefan Zweig lesen, bitte...

Rita Winkler · 06.07.2016

Der Film zeigt in wunderbaren Bildern mit genau passend und überragend spielenden Schauspielern die Tragik der damaligen Zeit, die Probleme im und mit dem Exil und die Hilflosigkeit gegenüber dem Wahnsinn in Europa zu der Zeit.
Die geretteten können nicht glücklich sein mit der Angst um Angehörige und Freunde, das alles fühlt man mit.
Sehr stimmig alles!

HelBri · 15.06.2016

Der Film zeigt mit einem äußerst großen Respekt vor der Hauptperson wichtige Szenen aus Zweigs Exil. Selbst seine politische Einstellung wird nicht dogmatisiert, sondern in wenigen Äußerungen und Szenen fein herausgearbeitet. Das zeitgemäße Umfeld ist gut dargestellt. Alles in allem mit feinem Pinsel in Pastellfarben gemalt.

KHM · 09.06.2016

Ja, subtil. Maria Schrader hat ein bedrückendes Psychogramm des Schriftstellers Stefan Zweig in wunderbarer Weise erstellt. Die schauspielerischen Leistungen sind einfach grandios.

Jan · 07.06.2016

Wirklich wunderbarer Film. Lustig und berührend. Eine neue Handschrift im deutschen Film. Mehr davon!